Wien 1880: Fanni Matzner, die edelste Hure Wiens, wird im Augarten tot aufgefunden, und nur auf Drängen eines sehr einflussreichen Freiers obduziert. Dabei kommt zutage, dass Fanni zum einen an fortgeschrittener Syphilis litt, und zum anderen, dass sie auf raffinierte Weise sehr unauffällig ermordet wurde. Da die Kundschaft der Dame in höchste Kreise reicht, beauftragt der Polizeipräsident den geschassten Kriminaler Leopold Kern, wegen seiner Affinität zu den den Damen des horizontalen Gewerbes allgemein nur der Hurenpoidl genannt, mit inoffiziellen Ermittlungen.
Der Kriminalfall (und seine Auflösung, die ich hier natürlich nicht preisgeben werde) passt zum tiefmorbiden Wien, ein wenig ist er an den Schamhaaren herbeigezogen, aber die Lektüre bereitet im Großen und Ganzen schon Vergnügen.
Größtes Manko ist - neben einer Reihe von Schlamperfehlern im Text, so etwas wie ein Korrektorat leistet man sich bei Piper anscheinend nicht mehr -, dass sich doch ein paar ärgerliche Anachronismen in den Text geschlichen haben - auch ein Lektorat ist für den Verlag wohl zu teuer. Gerade bei einem historischen Krimi, wo man aktiv miträtselt, ist das äußerst ärgerlich. Beispiele? Da denkt jemand in der Geschichte über sein ‚Unterbewusstsein‘ nach, zu einer Zeit, in der dieser Begriff noch unerhört war, weil in jenem Jahr 1880 der Medizinstudent Sigmund Freud erst seine Studien an Aalhoden unterbrechen musste, um seinen Wehrdienst zu leisten und noch Jahre entfernt war von irgendwelchen psychologischen Forschungen. Wir lesen ferner, wie der Doktor dem Ermittler erklärt, die Primärgeschwür der Syphilis trete dort am Körper auf, wo das Virus erstmals in den Körper gelangt sei - das ist medizinisch durchaus richtig, aber sowohl von der Erkenntnis als auch von der Terminologie ein knappes halbes Jahrhundert zu früh. Von Viren wusste man 1880 noch gar nichts, damals war man eben erst daran, Bakterien zu entdecken, etwa als Auslöser für die Cholera. Und dann ist da der Polizist mit dem frischen Hundedreck in den Rillen seiner Schuhsohlen - zu einer Zeit, in der man griffiges Profil für die Schuhe nur dadurch erzeugen konnte, dass man die Ledersohlen mit Nägeln versah. Dass der Ermittler mit seinem Inspektorengehalt mal eben zweimal die Woche im Gasthaus isst und sich dort Leckereien wie Tafelspitz und Wiener Schnitzel leisten kann, erscheint mir auch wenig glaubwürdig. Das sind dann in Summe einfach zu viele faktische Ausrutscher, finde ich.
Dem steht freilich gegenüber, dass - bei allen Schlampereien im Detail - der Text viel Flair verbreitet und uns eintauchen lässt in das Wien der Monarchie. Da wird ohne große Anstrengung - wie es scheint - erfreulich dichter Zeit- und Ortskolorit gestreut, auch in der Sprache, die sich dankenswerterweise nicht vor Austriazismen scheut. Das macht einfach nur Spaß.
Ganz nebenbei wird einem bewusst, wie kurz die Blütezeit jenes (vermeintlich) Goldenen Wien war, dass 1880 die Ringstraßenpalais noch Neubauten waren, die nach frischer Farbe rochen, und die Hofoper allgemein als architektonische Bausünde galt. Die erste Generation, die mit dieser fertigen kakanischen Pracht aufwuchs, war dann auch schon jene (Robert Musil und Karl Kraus etwa), die dann nach 1918 ihren Untergang besingen würde, das wird einem hier schmerzlich deutlich.
Im Ganzen ein ordentlicher Krimi in wunderbarem Setting mit ärgerlichen Recherchefehlern. Für mich genug, um mir Band zwei auf die Leseliste zu setzen.