Rezension zu "Bibliothek der unerfüllten Träume" von Peter Manseau
„Mach dir die Sprache zur Heimat, Itsik. Und mach sie dir auch zur Geliebten. Wenn du das tust, wirst du nie heimatlos sein und nie an gebrochenem Herzen leiden, das schwöre ich dir.“
Dies ist die Geschichte von Itsik Malpesch. Der jüdische Dichter wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Pogromnacht in Russland geboren – ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Die Lage für die Familie spitzt sich in den folgenden Jahren zu, bis Itsik in jungen Jahren nach Amerika auswandert.
“Ich verließ Chaims Unterschlupf noch am selben Abend und wanderte acht kalte Stunden lang durch die Straßen, denn ich wollte lieber in meiner eigenen Sprache erfrieren, als an einem Ort sein, wo ich nicht einmal das Wort für Wärme kannte.”
Hoffnungsträger seiner traurigen Seele ist die vier Jahre ältere Sascha Bimko, die auch in der Nacht seiner Geburt anwesend war. Er glaubt an Bestimmung, sie sei seine bashert, der Begriff hat sich auch mir ins Hirn gebrannt. Fortan schwebt sie wie ein Engel über jede Tätigkeit, jeder Gedanke scheint von ihr durchtränkt. Doch Sascha weiß sehr lange nichts davon.
„Haben Worte nicht immer dann die größte Macht, wenn wir sie einsetzen, um uns selbst davon zu überzeugen, dass das, was wir wahrnehmen, die Realität ist? Wenn ein Junge einen Schwur tut, denkt er nicht daran, was das alles mit sich bringen könnte; ja, er denkt überhaupt nicht. Und doch werden seine Worte, indem er sie formt und ausspricht, zur Wahrheit.“
In 22 Kapiteln, die mit hebräischen Schriftzeichen betitelt sind, wechseln sich Itsiks Erinnerungen mit der „Gegenwart“ ab – parallel dazu wird ein amerikanischer Student in den Fokus gerückt, der in den 90er Jahren als katholischer Religionswissenschaftler unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Archivar in einer jüdischen Bibliothek wird.
„Wer weiß denn schon, ob ein Autor bleibt, wer er war, wenn er für sich selbst unlesbar wird? Woran soll man das erkennen? Seine Worte werden zu einem Esel, der einem Hund geboren wurde.“
Die Vergangenheit verschmilzt mit der Gegenwart, denn Itsik möchte sein Lebenswerk veröffentlichen, der Amerikaner soll es übersetzen. In den folgenden Kapiteln wird die Sprache selbst auseinandergenommen, als Medium interpretiert, Wortmalerei betrieben. Es wird poetisch, philosophisch, für Bibliophile ein Genuss!
„Schon“, sagte ich. „Aber wir haben uns ja nicht völlig verändert. Wir sind immer noch Juden, nicht wahr?“
„Wir sind das, wozu uns das Leben macht“, sagte Schweig.
Der Autor Peter Manseau studierte Religionswissenschaften und Literatur, ist nicht jüdischen Glaubens, doch hat mit diesem Werk zu Recht den National Jewish Book Award erhalten. Wem Religionen völlig fremd sind, wird keinen Zugang zu diesem Werk finden, denn eine gewisse Offenheit ist Voraussetzung um all diese fein komponierten Emotionen empfangen zu können.
„Was spielt es für eine Rolle, wie lange die Nacht ist, wenn eine Kerze angezündet wird?“
Meine erste Lektüre dieses Romans ist einige Zeit her, doch ich bin nach wie vor verliebt wie am ersten Tag! Trotz grausamer Szenen, grauem Schleier der Traurigkeit, ist dieses Werk der Inbegriff von Hoffnung – getragen durch die Liebe zu einem Mädchen, was fern aller äußerlichen Kriterien einer Beziehung steht, sondern allein aus den Erinnerungen wächst und im blinden Gehorsam seiner Seele folgt.
„Geheimnisse brauchen Gesellschaft, und sie brauchen Nahrung. Man muss Geheimnisse mit weiteren Geheimnissen nähren. Wenn man nicht für Nachschub sorgt, wenden sie sich gegen einen, das weißt du doch?“
Plötzlich bemerkt man in sich den Drang sich der hebräischen Sprache zu bemächtigen – einfach, weil die Schriftzeichen geheimnisvoll auf uns hinauf schauen und ergründet werden möchten.
Virtuos komponierte Figuren, Emotionen werden getragen von Worten, die Tiefgang vermitteln und dabei unglaublich fein bleiben. Ist es Zufall oder Schicksal? Diese Frage rotiert, verfängt sich in den Antworten und bringt für die Fragenden weitlaufende Konsequenzen. Spannend. Doch das Werk ist nicht einzuordnen, es scheint alles zu umfassen, in gleichem Maße intelligent, vermittelnd, witzig, als auch grob und grausam zu sein. Darüber hinaus ist es eine bewegende Liebesgeschichte, die zu Tränen rührt.
Ein emotional sehr bewegendes Meisterwerk! Nach der Lektüre möchte man sein/e bashert suchen und festhalten.
„Du hast das ganze Wissen, das du fürs Leben brauchst, schon in dir. Es muss nur erschlossen werden.“
Trotz all der lauten Gewalt und den romantischen Melodien auf der anderen Seite des Ufers, spuckt das Werk keine großen Töne, sondern ist auf eigene Art wundersam still. Harfenklänge schaffen einen goldenen Schleier, in denen Schatten tanzen. Nach der Lektüre ist man aufgewühlt, ohja, doch ganz tief unten macht sich eine Befriedung breit, die keineswegs sättigt, sondern wundersam beruhigt.