Cover des Buches Die Intelligenz des Schwarms (ISBN: 9783593389424)
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Rezension zu Die Intelligenz des Schwarms von Peter Miller

Der Mensch ist auch nur eine Ameise. Oder doch nicht?

von Dr_M vor 9 Jahren

Rezension

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Dr_Mvor 9 Jahren
Ein typisches Merkmal für Schwarmverhalten ist das Nachahmen anderer Schwarmmitglieder. Insofern ist dieses Buch ein Produkt des menschlichen Schwarmverhaltens, denn es reitet auf einer künstlich erzeugten Trendwelle, die irgendwer in den USA erzeugt hat. Und deshalb erscheinen nun Texte darüber, warum und wie wir dringend unser Schwarmverhalten verbessern sollten, frei nach dem Motto "Von den Termiten lernen, heißt siegen lernen!". Der Verfasser des Vorwortes scheint in diesem Sinne jedenfalls schon völlig abgehoben zu haben. Glücklicherweise ist das Buch dagegen in einer sachlichen und informativen Weise geschrieben worden.

Der Autor stellt uns im Wesentlichen die Grundzüge der Selbstorganisation in drei Insektenstaaten vor (Ameisen, Bienen und Termiten), erklärt das Verhalten von Vogelschwärmen und erläutert abschließend, wann Schwärme (zum Beispiel Heuschrecken oder auch Menschen) austicken und Unheil anrichten. Das ist alles wirklich lehrreich und dazu noch leicht lesbar. Etwas verwirrend wurde es für mich lediglich immer dann, wenn auch der Autor auffordert, aus dem Schwarmverhalten anderer Spezies zu lernen. In der verständlichen Begeisterung über neue Erkenntnisse aus der Insektenforschung wird merkwürdigerweise übersehen, dass der Mensch völlig andere genetische Voraussetzungen als eine Biene oder eine Ameise besitzt. Und dies führt natürlich auch zu einem wesentlich anderen Verhalten, das nicht so einfach durch puren Willen, administrative Entscheidungen oder eine wie auch immer geartete intellektuelle Erkenntnis grundsätzlich geändert werden kann.

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Funktionsweise von Ameisenstaaten am Beispiel einer speziellen Ameisenart. Ganz nebenbei erfährt der Leser hier übrigens, dass diese Ameisen eine primitive Landwirtschaft betreiben, indem sie einen bestimmten Pilz züchten und auch über spezielle Verarbeitungstechnologien für Blätter verfügen. Es ist also keineswegs so, dass solche Technologien auf den Menschen beschränkt sind, wenngleich wir für uns in Anspruch nehmen, solche Techniken als einziges Lebewesen bewusst zu entwickeln. Neben vielen anderen interessanten Informationen erfährt man in diesem Kapitel dann auch wie diese Ameisen den kürzesten Weg zu einer Futterstelle mit Hilfe einer genialen Technik bestimmen. Sie lösen dabei ein Optimierungsproblem auf ganz praktische Weise, was wiederum menschliche Spezialisten dazu gebracht hat, diesen Algorithmus für ein Computerprogramm zu nutzen, das nun seinerseits komplexe Logistikprobleme in viel höherer Geschwindigkeit lösen kann als früher.

Der Kerngedanke dieses Kapitels ist jedoch, dass in Ameisenstaaten eine in der menschlichen Gesellschaft nicht vorhandene Selbstorganisation existiert, die die Ameisengesellschaft ohne Hierarchien effektiv funktionieren lässt. Während das Verhalten einzelner Ameisen höchst chaotisch wirkt, arbeitet der Gesamtorganismus des Ameisenstaates auch ohne Kommandostruktur sehr intelligent. Der Autor beschreibt die neusten Erkenntnisse über diese verblüffende Art der Selbstorganisation, die auf ganz simplen Regeln beruht.

Eine ähnliche Organisationsform findet man bei Bienen und Termiten (Kapitel zwei und drei). Auch hier ist man geneigt die Genialität und Effektivität zu bewundern, mit der diese Insektenstaaten ihr Leben organisieren. Allerdings scheint mir das beim Autor immer wieder anzutreffende Bestreben, solche Organisationsformen in Teilen auf die menschliche Gesellschaft zu übertragen, damit dort Verbesserungen und Effektivitätssteigerungen erreicht werden, bei aller Euphorie doch recht naiv.

Das vierte Kapitel erklärt das Verhalten von Vogelschwärmen. Auch an diesem Beispiel wird erneut deutlich, dass Selbstorganisation ganz verschieden funktionieren kann, aber immer auf sehr einfachen und wenigen Regeln beruht. Vögel behalten in diesem Zusammenhang einfach eine geringe Anzahl nächster Nachbarn im Schwarm im Auge und machen deren Verhalten nach. Vogelschwärme und große Herden funktionieren also ähnlich wie eine unorganisierte La-Ola-Welle.

Im letzten Kapitel befasst sich der Autor mit Amokläufen von Schwärmen. Dabei stellt sich heraus, dass bestimmte Parameter in Schwärmen nicht aus Toleranzintervallen ausbrechen dürfen, wenn sich der Schwarm normal verhalten soll. Insbesondere spielt dabei die Anzahl der Individuen im vorhandenen Territorium eine entscheidende Rolle.

Wie menschliches Schwarmverhalten auch funktionieren kann, demonstriert der Übersetzer dieses Buches. Um den politisch korrekten, aber umständlichen Plural des Wortes "Student" zu vermeiden, benutzt er lieber das sprachlich und logisch falsche "Studierende". Der Autor hingegen beschreibt im letzten Abschnitt sein eigenes Schwarmverhalten: Während einer Veranstaltung wird einigen Persönlichkeiten die Ehrendoktorwürde verliehen. Als Frau Clinton auf diese Weise geehrt wird, springen die "Studierenden" auf und applaudieren wild (sie sind also gerade "Aufspringende" und "Applaudierende"). Der Autor möchte da nicht mitmachen, kann sich aber nicht entziehen. Menschen orientieren sich also sowohl am Mehrheitsverhalten, als auch - wie der Übersetzer - an Minderheitsvorgaben in einer (gelegentlich auch nur gefühlten) Rangordnung, wenn hinter diesen nur genügend Druck steht.

Fazit.
Ein sehr lehrreiches und informatives Buch, das die Funktionsweise von Insektenstaaten und Schwärmen als Beispiele natürlicher Selbstorganisation zu erklären versucht. Dabei wird auch fortwährend die Frage diskutiert, ob diese Erkenntnisse in der Organisation der menschlichen Gesellschaft Anwendung finden können.
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