Rezension zu "Nach Gott" von Peter Sloterdijk
Warum oder wozu versteckt "es" sich? Wozu versteckt "es" sich hinter den menschlichen Größen der Weltgeschichte, habe ich mich beim Lesen des Buches "Nach Gott" immer wieder gefragt.
"Es" ist doch keine Maus, die in ihrer Angst völlig neben sich steht und sich vor dem Kater in seinem Mauseloch verkriechen muss. Oder ist "es" schon so sehr der Dämmerung verfallen, dass die Rollen vertauscht wurden? Überwacht und jagd jetzt der Übermensch die Götter, um die Apokalypse zu beschleunigen und Platz zu machen für die neue Morgenröte, "Nach Gott"?
An seinem Humor und seiner Sichtweise auf die Welt habe ich "es" gleich erkannt und meine, in Peter Sloterdijk hat "es" ein sprachgewaltiges Medium gefunden. Herzlichen Dank für dieses Gewissheitsduo, das zu einem einzigen Virtuosen verschmolzen ist.
Dass in der Dunkelheit am Ende des Mittelalters nur noch ein Blitz Luther den Hintern versengen musste, um ihn auf den Weg zum Licht zu bringen, wusste ich bereits. Auch, dass Descartes seinen Verstand für sein Ich hielt und von seinem Selbst keine Ahnung hatte. Das tun 17,? Milliarden Menschen der Gegenwart auch, indem sie ihr Selbst an Ärzte, Politiker, Lehrer und Maschinen veräußern.
Ebenso bekannt war mir, dass der, für seine Religionstoleranz berühmte Lessing dem Deismus so verfallen war, dass er den Theismus als Maskerade verteufelte. Verteufeln musste, denn wenn die Götter bereits dämmerten, konnten sie nicht mehr in die Schöpfung eingreifen.
Trotz meiner vorhandenen Kenntnisse bin ich dem Autor dankbar für seine Zusammenfassung, besonders für die "vier, fast unsbesiegbaren Linien", die uns an der Erkenntnis hindern: Hochmut, Verharren, Elend und Eifersucht.
Interessieren würde mich aber, wie sein, aus Felsen (Peter) errichteter Burgwall (Sloterdijk) zum Einstürzen kam. Wie ist er aus der "Seelendämmerung" erwacht? Wie hat er den "archimedischen Punkt" gefunden?
Geboren von einer, der deutschen Wehrmacht angehörigen und in den Niederlanden stationierten Mutter, 1947, zwei Jahre nach Kriegsende, mit einer schweren Neugeborenen-Gelbsucht, ein abwesender, niederländischer Vater und eine weitere weibliche Person im Haushalt, nämlich seine Schwester lassen nicht nur einiges vermuten, sondern weisen zudem deutliche Parallelen zu Friedrich Nietzsche auf.
Als Enkelin und Tochter von Kriegsopfern sowie Protestantin habe ich mich von Gott immer liebevoll beobachtet gefühlt, im Gegensatz zu Sloterdijks Kontroll- und Strafbeobachter. Schuldgefühle sind mir völlig fremd. Im Gegenteil habe ich immer selbstbewusst behauptet, wenn Gott mich anders hätte haben wollen, dann hätte er mich anders erschaffen sollen.
Sloterdijk folgt jedoch Nietzsche, dessen Vater früh verstarb, so sehr in der Ablehnung der Moral des Christentums, dass er dessen Liebe mit den Worten abtut: "Später kam der liebende Gott hinzu; seine Liebe freilich blieb oft ein Zwangsvertrag, von Drohungen durchsetzt."
Da die Kriegsopfer auf meiner mütterlichen Linie zu beklagen sind, genoss ich die Liebe meines Vaters, den ich mit dem himmlischen gleichsetzte. Sloterdijk dagegen macht aus einem Zimmermann einen Baustellenarbeiter, einen späteren Lebensgefährten und aus Christus ein Pflegekind, das sich einen Ersatzvater geschaffen hat.
Heißt dann der Ersatzvater Sloterdijks Wissen? Und ist dieses nicht mit dem allwissenden Gott identisch?
"Gleichsam als Zugabe zu dem glänzenden jenseitigen Erzeuger hätte er später für sich ein Verwandtschaftssystem aus gleichträumenden Brüdern und Schwestern ins Leben gerufen, die ihm bei seinem Bemühen assistierten, den Verlegenheiten seiner realen Herkunftsdunkelheit ein für alle Mal ein Ende zu bereiten."
Schade, dass die Zielgruppe seiner Quelle, vielleicht auch die seines Verlegers, eine andere ist. Denn ich kann nicht glauben, dass das Medium noch so unkonzentriert ist, dass es im zerbrochenen Spiegel seiner Umwelt auf Anerkennung seines Wissens hofft. Oder ist es die Anerkennung des Vaters, nach der er vergeblich gesucht hat und ihn deshalb als Gott im Duett mit Nietzsche für tot erklärt?
Mein himmlicher Vater lebt! Das erfahre ich täglich durch seinen Schutz und dem Gefühl der Geborgenheit.
Unsicher bin ich jedoch, ob meine Mutter, Mutter Erde, seit dem Untergang des Matriarchats jemals richtig lebendig war. "Lebt Mutter Erde noch?", wäre ein schöner Buchtitel, meine ich.
Vera Seidl