Mit Statistiken ist das so eine Sache. Alles in Zahlen zu (ver-)packen ist ein brauchbares Tool, um sich in Szene zu setzen und der Allgemeinheit etwas an die Hand zu geben. Im Jahr von Wahlen ein lieb gewonnenes Ritual. Doch so richtig nahrhaft sind die wenigsten Statistiken, wenn es bei den bloßen Zahlen und Ziffern bleibt.
In Dresden werden neun der größeren Kulturinstitutionen von Frauen geleitet. Da wird also das letzte I nicht groß geschrieben, sondern gehört zur genauen Definition der Berufsbezeichnung dazu. Ja, und was macht man nun mit dieser Zahl Neun? Man stellt die Eine oder Andere dieser neun „innen“ vor. So wie die Künstlerin Stephanie Lüning. Schaumschlägerin im besten Sinne des Wortes. Weltweit sorgen ihre Objekte – luftig-leichte Schaumskulpturen – für Aufsehen. Nora Schmid verantwortet seit einiger Zeit die Semper-Oper im Herzen der Stadt. Eine Rückkehrerin, die im Interview mit dem Kulturjournalisten Andreas Berger eine selten erlebte Offenheit an den Tag legt. Bedeutend ernster wird es im Gespräch mit Julia Schellong, die die erste Traumaambulanz Seelische Gesundheit“ in Dresden eröffnete. Drei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, und dabei hat man noch nicht einmal ein Viertel des aktuellen Bookzins „Stadtluft“ erlesen.
Nur einmal im Jahr – da sind sie wieder, die unumgänglichen Zahlen – erscheint das wohl dickste Magazin im gigantischen Buchformat, deswegen Bookzin. Ein guter Brauch zur Weihnachtszeit sich mit der Stadt vertraut zu machen. Und das in jeder Hinsicht. Man muss sich trauen ein dickes Magazin wie dieses in die Hand zu nehmen. Und dann taucht man ein in eine Stadt, die im Jahr 2024 mit vielen Nachrichten zu kämpfen hatte. Allen voran die unzähligen Berichte über den tragischen Einsturz der Carolabrücke und der damit einhergehenden Diskussion über den Zustand deutscher Brücken, deutscher Ingenieurskunst und deutscher Bürokratie inkl. der klammen Kassen. Dresden wurde zum Synonym für das Versagen beim Thema Brückenzustand.
Den Machern gelingt es Jahr um Jahr eine Lektüre dem Leser an die Hand zu geben, die das Offensichtliche als Grund nimmt unter die Oberfläche zu schauen und in den Tiefen der Stadt echte Geschichten zu finden, die es eben nun mal nur hier gibt. Da kann es schon mal passieren, dass die Zeit still steht. Zum Beispiel, wenn Gerd Püschel sich im Residenzschloss Gedanken zur Zeit macht. Sie rennt, muss genutzt werden, und manchmal erscheint sie im Gewand der Vergangenheit. An dieser Stelle muss der Vorteil eines solchen Bookzins einmal in den Vordergrund gehoben werden. Die Artikel sind keine gehetzten Texte, die nach Zeilenzahl eingeordnet werden. Es scheint als ob jedem Autor so viel Platz gegeben wird wie er möchte. Viel Platz (viele Zeilen, um zu den Zahlen – wenn auch nur ungenau – Platz (!) einzuräumen), um sich dem Objekt der Begierde zu nähern. Einleitungen, die man nur noch selten findet, Themenaufbau, Zuspitzen der Geschichte etc. So flaniert Gerd Püschel anfangs durch die philosophischen Abhandlungen des Augustinus von Hippo, der die Zeit in seinen „Confessiones“ in drei Zeiten einteilt: Gegenwart von Vergangenem, von Gegenwärtigem und von Zukünftigem. Alsbald erspäht der Autor chinesische Touristen, die sich in der Kulisse der Ausstellungsräume als stelenhafte Social-Media-Artefakte in Szene setzen. Und wie kommt man da nun auf die Verbindung Dresden-Zeit-Europa? Das ist die große Kunst, die man nur in einem derartigen Bookzin ausleben kann. So viel sei an dieser Stelle verraten, mehr aber auch nicht.
Noch einmal zurück zu den Frauen und Dresden. Julija Nawalnaja muss im Mai 2024 den Friedenspreis entgegennehmen. Ja, sie muss. Denn der eigentliche Preisträger, ihr Mann Alexej Nawalny ist da seit knapp einem Vierteljahr tot. Unter unerklärlichen Umständen im Gulag ums Leben gekommen. Ihr Tag, ihre Geschichte, ihre Emotionen beschließen die neunte Ausgabe der Stadtluft Dresden. Bis zu diesem Punkt hat man die Antwort auf die Frage wie wild der Wilde Mann ist von einer Frau beantwortet bekommen. Es wird die weibliche Seite der Stadt mit all ihren bunten, queeren, nachdenklichen, fröhlichen Seiten gezeigt – von wem? Einer Frau natürlich. Und wie es im Leben nun mal so ist: Auf Frauen zu warten lohnt sich. Die nächste Stadtluft Dresden kommt in einem Jahr…