Rezension zu "Der entstörte Mensch" von Petra Bock
Manchmal lese ich Leuten einige ausgewählte Sätze aus den Büchern vor, mit denen ich mich gerade beschäftige. "Wie kann man so etwas nur lesen?", war die Frage bei diesem Buch. Und tatsächlich habe ich mehrere Anläufe gebraucht, um diesen Text bis zu seinem Ende auszuhalten. Wenn ich nicht bereits die MF-Bücher der Autorin gekannt hätte, wäre ich diesem Werk schon wegen seiner Kurzbeschreibung aus dem Wege gegangen, was sicher die bessere Entscheidung gewesen wäre.
Petra Bock hat sich mit diesem Buch viel vorgenommen: Sie möchte nichts weniger als die Menschheit endlich entstören. Seit Tausenden von Jahren, so klagt sie, leben die Menschen mit einer Geisteshaltung, die zunächst ihrem Überleben die oberste Priorität einräumt. Das müsse nun enden, denn fast alle Konflikte der Gegenwart und Vergangenheit könne man auf diese falsche Grundhaltung zurückführen. Man müsse sich davon entfernen, dann tritt gewiss das Paradies ein, das sie mit viel phrasenhaftem Wortgeklingel beschreibt.
Angesichts eines solchen Anspruchs, der nichts weiter ist als intellektueller Größenwahn, kann man sich humorlos ganz praktische Fragen stellen. Zum Beispiel, wie das denn gehen soll mit der Entstörung. Wo ist der Hebel, den man umlegen muss? Lesen alle Menschen dieses Buch und kommen dann endlich zu sich? Müssen wir alle einen Umerziehungsprozess durchlaufen? Selbstverständlich würde Frau Bock so etwas von sich weisen. Da sie sich jedoch in ihrem ersten Leben mit den Übergängen von Demokratien zu Diktaturen und umgekehrt befasst hat, sollte sie eigentlich wissen, wohin ein Anspruch auf den "neuen Menschen" immer führt.
Leider versteht die Autorin ganz einfache Mechanismen nicht. Das, was sie Störung nennt, befindet sich nicht in unserem Kopf, also nicht im Denken, sondern (schon allein wegen seiner dauernden Fortschreibung über viele Genrationen) in unseren Genen. Und die sind erwiesenermaßen schwer erziehbar. Deshalb geht ihr Entstörungsanspruch völlig an den Tatsachen vorbei. Woher kommen dann solche merkwürdigen geistigen Ausflüsse? Hier kann man sie vielleicht sogar verstehen. Frau Bock schreibt sonst Lebenshilfebücher und ist als Coach tätig. In ihrer Arbeitswelt befasst sie sich mit Menschen und Zusammenhängen, die genau ins Profil von mentalen Störungen passen. Das hat sie vermutlich abstrahiert und daraus das Bild vom gestörten Menschen in ihrem Kopf erzeugt.
Nun sind schon viele Intellektuelle an der Menschheit verzweifelt. Sie sind meistens in Vergessenheit geraten, und geändert haben sie nichts. Und wenn doch, dann nicht zum Guten. Vielleicht kann man einen Menschen in gewissen Toleranzgrenzen ändern, aber niemals eine Gruppe und schon gar nicht eine Gesellschaft. Wenn sich die Lebensumstände generell ändern und sich Menschen anpassen müssen, eben weil sie überleben oder besser leben wollen, dann kommt es zu Verhaltensänderungen. Das ist die Triebkraft von Veränderungen und nicht die Geisteswelt oder die Ausflüsse von Intellektuellen. Allerdings haben solche Umstände noch nie zu grundlegenden, Verhaltensänderungen geführt, die sich gegen die genetische Programmierung des Menschen richten. Genetik ist stärker als jeder bewusste oder unbewusste Erziehungsversuch. Das beweist allein schon die Zwillingsforschung.
Und wenn wir schon bei Lebensumständen sind, dann kommt bei Frau Bock vermutlich noch hinzu, dass ihre Klientel nicht typisch für den Bevölkerungsdurchschnitt ist. Ein sehr großer Teil der deutschen Gesellschaft lebt von der Hand in den Mund, hat also keine großen finanziellen Reserven. Vielleicht sollte Frau Bock mal in solche Kreise gehen und diesen Menschen ihre Theorie vom Gestört-Sein erklären und sie ermahnen, nicht immer gleich ans Überleben zu denken.
"Das gestörte Denken und seine Logik sitzen tief. Doch sie sind weder natürlich noch angeboren", heißt es zu Beginn des 5. Kapitels. Da irrt die Autorin sich fundamental. Aber sie fährt unerschrocken in ihrer phrasenhaften Infantilität fort: "Die Zeit des gestörten Denkens ist abgelaufen, sein Code ist geknackt. Innerhalb des alten Denkrahmens finden wir keine neuen Lösungen. Deshalb brauchen wir einen neuen Denkrahmen, um in einer komplexen, volatilen Welt wieder sicher zu navigieren und endlich ein sinnvolles, erfülltes Leben zu führen, ohne uns und anderes Leben weiter zu schädigen. Es muss uns befähigen, Stress auf ein Minimum zu reduzieren, und zugleich eine klare innere Richtung geben, wie wir die Welt ernsthaft, unaufgeregt und konsequent zum Besseren verändern können."
Mag sich jeder sein Urteil selbst bilden, wenn er allein schon diese paar Sätze liest. Wenn man nun erwartet, dass die Autorin ihren Lesern erklärt, wie sie sich denn nun die weltumspannende "Entstörung" vorstellt, dann kommt man erwartungsgemäß bei einem selbst an. Wir sollten uns erst einmal selbst entstören. Aber selbst dort bleibt Frau Bock ihren Allgemeinplätzen treu, die sie in ähnlicher Form breitschreibt. Ich könnte jetzt noch viele Zitate anbringen, die eine ähnliche Qualität besitzen wie das obige, denn das ganze Buch strotzt nur vor solchen Formulierungen. Im Grunde bedeutet eine „Entstörung“ einen völligen Bruch mit "alten Denkmustern". Eigentlich müsste Frau Bock wissen, wie schwer es ist, auch nur ein eingefahrenes "Denkmuster", das ja in Wirklichkeit ein im Unterbewusstsein implementiertes Verhaltensmuster ist, zu verändern. Aber sie will gleich einmal alles umstoßen. Und das auch noch bei der ganzen Menschheit. Ein wahrlich gottgleiches Vorhaben.
Und wenn ich schon bei Gott angelangt bin, dann kann ich es mir nicht verkneifen, zu erwähnen, dass Frau Bock selbstverständlich auch die Religionen "entstören" möchte. Nur zu, möchte man ihr zurufen. Ich kenne da eine, die schon ganz scharf darauf ist, ausgerechnet von einer Frau "entstört" zu werden.
Kurz und gut – das ist ein schmerzlich infantiles Buch, abgehoben und völlig weltfremd.