Cover des Buches Der dunkle Schirm (ISBN: 9783596905669)
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Rezension zu Der dunkle Schirm von Philip K. Dick

Prophetisches Werk aus 1977

von awogfli vor 9 Jahren

Rezension

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awogflivor 9 Jahren
Der dunkle Schirm ist im Prinzip in wenigen Elementen ein Science Fiction Roman sondern eher ein Zeitbild der Nach-Hippie-Nixon Ära. Nichtdestotrotz ist er prophetischer und aktueller als viele Werke, denn er thematisiert die totale Überwachung des Bürgers durch den Staat, ihre Folgen, und den kompletten Zerfall von Menschen, die im Drogensumpf landen. Im Prinzip gibt es in der Geschichte Spießer, die sich an den repressiven Staat angepasst haben und Revoluzzer, die rebellieren, bedauerlicherweise aber alle drogensüchtig sind. Dazwischen operieren vom Staat angestellte Undercover Agenten, die in beiden Welten zu Hause sind und ständig mehrere Rollen spielen.
„Robert Arctor starrte die Spießer in ihren fetten Anzügen, ihren fetten Krawatten und ihren fetten Schuhen an und dachte: Substanz T kann ihre Gehirne nicht zerstören, denn sie haben keine.“

Auch wenn die Story auf die Nixon Ära Bezug nimmt, ist sie aktueller denn je, wenn man die ganzen USA/NSA-Bespitzelungen in letzter Zeit Revue passieren lässt. Dick sagte 1972 in Vancouver:
„Wenn der Prozess andauert und wir ein totalitäres Gesellschaftssystem mit einem allmächtigen Staatsapparat bekommen, wäre folgende Ethik am wichtigsten für das Überleben von wahren, freien Menschen: betrügen, lügen, sich drücken, schwindeln, abwesend sein, gefälschte Papiere besitzen und in der Garage Apparate stehen haben, die die von den Herrschenden benutzten Geräte überlisten.“

Wie prophetisch - eine der wenigen Science Fiction Ideen im Roman, der Jedermann Anzug, auf dessen Oberfläche unterschiedliche gemorphte physiognomische Schemata in schneller Abfolge projiziert werden, um den Träger für die Überwachungsgeräte unidentifizierbar zu machen, wurde heuer von der Realität eingeholt.

Adam Harvey hat 2015 eine Modelinie entworfen, die Stealth Wear heißt und die den Träger vor Gesichtserkennung schützt. Reflektierende Stoffe, die Kameras, Körperscanner, Gesichtserkennungssoftware... verwirren hier geht es zur Website des Künstlers

Außerdem wird in Wien im Museumsquartier gerade eine Ausstellung zu dieser Mode von Harvey bis 24. November gezeigt. Am 26. Oktober unserem Staatsfeiertag gibt es einen Workshop mit dem Künstler, in dem Make-Up Tricks gezeigt werden, wie man die allgegenwärtige Gesichtserkennung mit Schminke und Haarteilen austrickst. Artikel im Spiegel

In der Geschichte schlittert der Drogenfahnder Bob Arctor durch seine Untercoveraktivität, durch den Zwang mehrere Rollen konsistent spielen zu müssen, durch die ständige Überwachung, durch den Drogenkonsum, der daraus resultierende echte und eingebildete Verfolgungswahn und die Unfähigkeit beide voneinander zu trennen, in eine immer größere Identitätskrise. Als er dann als anonymer Undercover-Agent auch noch beauftragt wird, sich selbst zu überwachen, kann er nicht mehr feststellen, welche Identität ihn selbst ausmacht. Er driftet durch seine Rolle und den hohen Drogenkonsum, den er zur Aufrechterhaltung seiner Tarnidentität pflegen muss, nach und nach in eine massive Persönlichkeitsspaltung ab. Minutiös wird der Weg von einem mehr oder weniger gesunden Menschen, Schritt um Schritt in eine völlig zerstörte wahnhafte Persönlichkeit mit massiven Hirnschädigungen beschrieben. Dies betrifft nicht nur den Hauptakteur der Geschichte, sondern die gesamte Clique, die bei ihren langatmigen, sinnlosen Drogengesprächen bis zu ihren paranoiden Schüben genauestens beobachtet wird. Ganz gezielt spielt Dick mit Realität und Paranoia und verwischt die Grenzen absichtlich und meisterhaft. Zu zwei Drittel der Story war sogar ich als unbeteiligter Leser davon überzeugt, dass alle Drogensüchtigen in der Clique Drogenfahnder sind, die sich gegenseitig überwachen und vernadern.

Am Ende kommt zwangsläufig der Zusammenbruch durch die massive Hirnschädigung und Bob/Fred/Bruce landet in einer Entzugsklinik. Hier erfährt die Geschichte, so wie ich es bei Philip K. Dick liebe, nochmals eine unerwartete Wendung in der Handlung. Mehr möchte ich nicht mehr verraten. :-)

Fazit: Der Roman ist grandios, dennoch bekommt er von mir einen Stern Abzug, da er auf weiten Strecken gar so heavy, wahnhaft und pessimistisch ist. Das ist aber nur mein persönlicher Geschmack. Ein Meisterwerk!
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