Cover des Buches Die seltsame Welt des Mr. Jones (ISBN: 9783442231263)
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Rezension zu Die seltsame Welt des Mr. Jones von Philip K. Dick

Die Zukunft ist ein offenes Buch ...

von Stefan83 vor 9 Jahren

Rezension

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Stefan83vor 9 Jahren
Es ist dann doch mehr der Gewohnheit als einem wirklichen Nutzen geschuldet, dass ich mir auch im Fall von „Die seltsame Welt des Mr. Jones“ die Mühe gemacht habe, eine Rezension zu schreiben. Wenig Nutzen nicht unbedingt, weil ich die allgemeine Kritik am Frühwerk von Philip K. Dick in Gänze teile, sondern eher aufgrund der Tatsache, dass die letzte deutsche Ausgabe bereits aus den 70er Jahren stammt und mit einer Neuauflage nicht allzu bald zu rechnen ist. Selbst wenn also jemand da draußen sich von dieser Besprechung zum Kauf versucht fühlen sollte, muss er sein Augenmerk auf Antiquariate und Flohmärkte richten. Eine Mühe, welche sich heute wohl nur die wenigsten machen dürften. Dennoch hat dieser Monksche' Zwang meinerseits dann auch vielleicht seine guten Seiten, erlaubt dieser 1956 veröffentlichte Roman Dicks doch einen Blick auf die Anfänge eines der wichtigsten und einflussreichsten Literaten des 20. Jahrhunderts und gibt gleichzeitig Einblick in die Welt und das Denken dieser Zeitepoche. Dass es dem Autor zudem gelingt, in vielerlei Elementen äußerst visionär und beinahe hellseherisch (z.B. Fernsehschirme in der Rücklehne von Autositzen) in die Zukunft zu blicken, verleiht dem kurzen Büchlein zusätzlich Charme. Und der Unfähigkeit der Menschen, aus der Geschichte zu lernen, ist es dann letztlich auch zu verdanken, dass – betrachtet man die derzeitige Diskussion um die Verfilmung von Timur Vermes' „Ich bin wieder da“ sowie das Verhalten einiger Mitbürger in der Flüchtlingskrise – auch der Personenkult um Mr. Jones nicht wirklich an Aktualität verloren hat.

Doch First things first und daher mal ein kurzer Einblick in den Inhalt:

Wir schreiben das Jahr 2002. Die Erde ist nach einem langjährigen Atom-Krieg schwer gezeichnet und die Menschheit erhebt sich nur langsam aus den post-apokalyptischen Trümmern. Viele amerikanische Städte sind komplett vernichtet, Staaten wie die Republik China und die Sowjetunion sind als Folge des gewaltreichen Konflikts der Ideologien gänzlich kollabiert. An ihrer Statt wurde deshalb die Bundesweltenregierung (Bureg) installiert, deren politische Leitlinie, der Relativismus, als moralische und ethische Philosophie festlegt, dass es jedem Bürger frei steht, an das zu glauben, was er möchte, so lange er niemand anderen dazu bringt, diesem Glauben oder Prinzip zu folgen. Unbewiesene absolute Behauptungen sind strikt verboten. Widerständler und Dissidenten des sankrosanten Relativismus werden von der Geheimpolizei festgenommen und in Arbeitslager verfrachtet. Einer ihrer Agenten ist Doug Cussick, den man soeben zu der Bewachung einer speziellen Schutzkuppel abgestellt hat, in der mutierte Menschen für ein geheimes Projekt gezüchtet werden. Die Bewachung ist notwendig, da Jones' Anhänger inzwischen immer mehr Zulauf bekommen und der Rückhalt der derzeitigen Regierung zunehmend bröckelt. Während ihm Dr. Rafferty die Einzelheiten seiner medizinischen Forschung darlegt, erinnert sich Cussick an das erste Mal zurück, als er Jones begegnet ist:

April 1995. Cussick ist erst seit kurzer Zeit Mitglied bei der Geheimpolizei und nutzt einen freien Tag, um sich die Attraktionen auf dem örtlichen Jahrmarkt näher anzuschauen. Dabei fällt sein Blick auf einen unscheinbaren Mann, dessen vereinsamter Stand mit dem Schild „Keine persönliche Wahrsagung“ wenig erfolgreich Werbung macht. Cussicks Interesse ist dennoch geweckt und er beginnt ein Gespräch mit dem Mann namens Jones. Der erklärt ihm, dass er in der Lage ist, genau ein Jahr in die Zukunft zu sehen und unterrichtet ihn von der baldigen Ankunft einer außerplanetarischen Spezies, den so genannten „Driftern“. Anfangs noch skeptisch, macht Cussick dennoch Bericht bei seinen Vorgesetzten, welche Jones in Folge dessen im Auge behalten. In den nächsten Jahren treten alle von ihm angekündigten Ereignisse ein. Doch als die Bureg schließlich die Gefahr erkennt, welche von Jones ausgeht, ist es schon zu spät. Alle Zeichen der Zeit deuten erneut auf Krieg. Und alle fragen sich … was weiß Jones?

Prophezeiungen, Blicke in die Zukunft, Vorhersagen. Es scheint dieses Thema zu sein, welches Dick recht früh gepackt und vielleicht auch nie so recht losgelassen hat (siehe z.B. „Der Minderheiten-Bericht“). Bereits „Hauptgewinn: Die Erde“ führte mit den Te-Pe's eine neue Menschengattung mit präkognitiven Fähigkeiten ein, deren telepathische Begabung die Herrschaft des Quizmeisters sicherten. Nun also Jones. Hierbei ist auffällig, dass Dick die Geschichte des titelgebenden Wahrsagers/Predigers von hinten aufrollt und der Erzählstrang um die eingesperrten Mutanten in ihrer Kuppel quasi den Beginn des Endes markiert, welches man schließlich in der Rückblende abschließend erreicht. Ein merkwürdiger, aber auch sehr wirksamer Schachzug vom Autor, der die Identität der Mutanten sowie ihren Zweck damit verschleiert und gleichzeitig die totalitären Züge des Bureg-Systems durch die Geschichte um den Aufsteig von Jones' näher ergründet, der ironischerweise noch anfänglich von der gesetzlichen Toleranzvorschrift gegenüber allen Lebensformen (u.a. bizarre Mutanten wie Hermaphroditen) profitiert. Er ist der Dreh- und Angelpunkt in der Geschichte und bleibt doch in seinen Wirken und Intentionen für den Leser über einen langen Zeitraum eine mysteriöse Figur.

Ganz anders Doug Cussick, der stellvertretend für die Bureg steht, deren Berechtigung er erst in Frage stellt, als seine Frau diesem System dem Rücken kehrt und sich den Anhängern von Jones anschließt. Er gewährt dem Leser auf persönlicher Ebene einen Einblick in den Aufbau der Gesellschaft, welche, wie ihre Umwelt, vor allem dystopische Züge aufweist und in seinen Beschreibungen mitunter nur schwer erträglich ist. Besonders Cussicks Besuch eines Nachtclubs, in dem sich zwei Hermaphroditen auf der Bühne vor einer weitestgehend unbewegten Menge mehrmals verwandeln und dabei lieben, ist mir nachträglich und eindringlich in Erinnerung geblieben. Als Folge des Relativismus kann zwar jeder tun und lassen was er will – der Preis den er aber dafür zahlt, ist die Gleichgültigkeit. Die Menschen sind abgestumpft, taub, ohne Glauben und Ziel. Sie leben eine Existenz ohne tieferen Sinn. Setzen Kinder in die Welt, ohne ihnen Werte vorgeben oder gar ungeteilte Aufmerksamkeit schenken zu können. Toleranz wird zunehmend mehr als Desinteresse und Aufgabe, und in diesem Zusammenhang Jones als Heilsbringer empfunden. Er ist der dauerhafte Ausnahmezustand, das richtungsweisende Element, das alleinige Wissen, dem man folgen kann.

Philip K. Dicks Roman ist ein verstörender Blick in eine (leider auch heutzutage) nicht gänzlich unmögliche und vor allem düstere Zukunft, der die Risiken von einer gleichgültigen Toleranzgesellschaft ebenso beleuchtet, wie die Auswirkungen eines Personenkults, dessen absolutes Wissen wertlos wird, wenn es nicht für die richtigen Zwecke eingesetzt wird. Selbstbestimmung und Schicksal – zwei Dinge, welche nicht nur im Buch selbst, sondern wohl auch im Geiste des Lesers gegeneinander abgewogen werden müssen. Und ein jeder kommt hier vielleicht zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Warum kommt der Roman dann also bei den Kritikern („hasty and disappointing“, Anthony Boucher) derart schlecht weg? Ein Grund dafür könnte in der Tat der hastige Stil sein, der sich und uns keinerlei Atempausen gönnt, aber auch keine gönnen kann, da Dick gleich soviel Themen in diesem doch äußerst kurzen Novelle unterbringen will. Mutierte und gezüchtete Menschen, außerirdische Eindringlinge und Leben auf anderen Planeten, um nur ein paar davon zu nennen. Insbesondere der geschichtliche Wurmfortsatz am Ende, der zudem äußerst kunterbunt und fröhlich – und damit konträr zum Rest des Romans – daherkommt, wirkt unnötig und deplatziert. Hier hat der Autor für mich den richtigen Zeitpunkt zum Schluss machen verpasst.

Dennoch: „Die seltsame Welt des Mr. Jones“ hat mich gut und vor allem anregend unterhalten, bisweilen aber mein Gemüt durch diese doch wirklich hoffnungslose, triste Zukunftsvision auch arg getrübt. Ein Roman, mit vielen intelligenten Ansätzen, dem man den Frühwerk-Charakter zwar anmerkt, der aber im selben Zug auch immer wieder die Klasse des späteren Philip K. Dick andeutet. Wem das schmale Büchlein also wider Erwarten doch in die Hände fällt, sollte eine Lektüre unbedingt in Erwägung ziehen. Aller Kritiken zum Trotz – es lohnt.
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