Cover des Buches Newtons Schatten (ISBN: 9783499234101)
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Rezension zu Newtons Schatten von Philip Kerr

Von der Erfindung der Deduktion

von brudervomweber vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Der frühere Holmes - Kerrs Newton ist ein Logiker reinsten Wassers, und der zu lösende Fall zum ausgehenden 17. Jahrhundert ein Pageturner!

Rezension

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brudervomwebervor 10 Jahren
Einen Kriminalroman historisch einzubetten, ist keine neue Idee. Insbesondere Philip Kerr hat sich mit seiner inzwischen auf fünf (sechs? sieben?) Teile ausgewachsenen Reihe um den raubeinigen Berliner Privatdetektiv Bernhard "Bernie" Gunther, dessen Fälle in den 30er, 40er und zuletzt 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts spielen, bereits auf diesem Terrain versucht.

Nun aber den Sprung ins ausgehende siebzehnte Jahrhundert zu wagen und einen der bahnbrechendsten Naturwissenschaftler der Menschheitsgeschichte zu seinem Protagonisten zu machen, ist nichtsdestotrotz ein Wagnis, welches gründlich misslingen könnte. Während die Welt, in welche man Bernie Gunther zu folgen hat, in ihren grundsätzlichen (wissenschaftlichen) Fugen derjenigen entspricht, in welcher man das Buch in der Hand hält, in welchem von seinen Abenteuern berichtet wird (oder vielmehr erst selbst davon berichtet), ist der gedankliche Sprung, den man als Leser zu vollbringen hat, um sich von dem Fall selbst fesseln zu lassen, weit weniger groß als derjenige, welchen einem Kerr diesmal abverlangt.

Der Fall spielt im Jahr 1696, die Naturwissenschaften und das (Allgemein-)Wissen um die Dinge und wie sie "wirklich" sind, sprich: wie wir sie heute zu kennen glauben, sind noch längst nicht etabliert und die Welt, in welcher Newton und sein Gehilfe Christopher Ellis eine Reihe von Morden aufzuklären haben, ist dem Leser fremd wie ein anderer Erdteil (so er sich nicht ausgerechnet mit dieser Periode englischer und europäischer (Geistes)Geschichte bereits beschäftigt hat).

Um diesen Graben zu überwinden, stellt Kerr seiner Leserschaft das ungleiche Paar seiner beiden Ermittler zur Seite, an denen man sich in die Geschichte hineinarbeiten kann. Christopher Ellis, der (im übrigen geschichtlich verbürgte Assistent Newtons in seiner Zeit als Münzwardein in der königlichen Münze Großbritanniens) die Geschichte dieses Kriminalfalls in bester Watson-Manier erzählt und seine anfangs naive Weltsicht mit den wissenschaftlich analysierenden und deduzierenden Augen seines Brotgebers Isaac Newton zu ersetzen lernen muss, übernimmt hierbei die Funktion, jene für uns in vielerlei Hinsicht andersartigen Denkweisen, politischen und religiösen Verwicklungen und mitunter überraschend derben Lebensverhältnisse der Menschen im ausgehenden 17ten Jahrhundert zu beschreiben und sie gleichzeitig mit unserer heutigen Sicht der Dinge zu vermählen.

Hieran liegt es auch, dass der Krimi sich mit gemächlichem Tempo entfaltet, dass Hektik oder sich überschlagende Ereignisse in diesem Roman keinen Platz haben. Die Beschreibungen und insbesondere die Sprache des Erzählers strotzen vor bildhaft-barocken Ausschmückung und umständlichen Formulierungen, und manch eine Vokabel, die hier zum Einsatz kommt, muss man erst einmal aus dem Hinterkopf oder einem Wörterbuch herausklauben. Dennoch mutet diese altbackene Sprache authentisch an, und an dieser Stelle muss man zwangsläufig auch der Übersetzerin Cornelia Holfelder-von der Tann ein Kompliment aussprechen - diesen Text zu übersetzen, war gewiss keine 08/15-Aufgabe, und sie meistert ihre Aufgabe mit Bravour.

Man mag die vermeintliche Trägheit des Romans bemängeln, seine gebauschte Sprache, seine gemächlichen Ent- und mitunter waghalsigen Verwicklungen. Oder man kann sich von der Welt hinter der Geschichte verzaubern lassen und dem alles andere als durchschaubar angelegten Kriminalfall auf diesem Wege und in kleinen, gemessenen Schritten nähern.

Ich jedenfalls habe diesen historischen Kriminalroman mit großem Vergnügen verschlungen und muss sagen, dass ich ihn zu dem Besten zähle, was ich bislang von Kerr gelesen habe.

Was zumindest ich als wirkliche Empfehlung ansehe.
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