Ludwig XIV. von Frankreich (1638-1715) gehört zu den bedeutendsten Monarchen der europäischen Geschichte. Die ältere und neuere Literatur über den sogenannten Sonnenkönig und die Geschichte Frankreichs im 17. Jahrhundert ist kaum zu überschauen. Selbst bei einer Beschränkung auf biographische Werke kann ein interessierter Leser und erst recht ein Leser mit Fremdsprachenkenntnissen zwischen Dutzenden Büchern unterschiedlichen Umfanges und Anspruches wählen. Alle aus wissenschaftlicher Sicht großen und bedeutenden Biographien Ludwigs XIV. stammen aus Frankreich, Großbritannien und den USA. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat noch nie eine herausragende Biographie des Bourbonen-Königs hervorgebracht. Jahrzehntelang waren auf dem deutschen Buchmarkt mehrere aus dem Englischen und Französischen übersetzte Biographien verfügbar, die allesamt populärwissenschaftlich und daher von begrenztem Wert sind. Genannt seien die Bücher der Briten W.H. Lewis (1959), Vincent Cronin (1964) und Nancy Mitford (1966), des Franzosen Philippe Erlanger (1965) und des Amerikaners Olivier Bernier (1987). Was deutsche Historiker und Sachbuchautoren zur biographischen Literatur über Ludwig XIV. beigesteuert haben, ist allenfalls zweite Wahl, wenn nicht gar vollkommen unbrauchbar. Die Biographie von Uwe Schultz (2006) ist ein Ärgernis wie alle Bücher dieses Autors, und die schmalen Bücher von Martin Wrede (2015), Mark Hengerer (2015) und Anuschka Tischer (2017) ermöglichen lediglich eine erste Annäherung an Ludwig XIV. Nur wenige Biographien des Königs genügen vom Umfang und Niveau her wissenschaftlichen Ansprüchen. Das gilt für die Werke von John Wolf (1968), François Bluche (1986), Jean-Christian Petitfils (1995), Geoffrey Treasure (2001), Thierry Sarmant (2012) und Philip Mansel (2019). Diese sechs Biographien haben eines gemeinsam: Sie wurden allesamt nicht ins Deutsche übersetzt und dürften deshalb in Deutschland nur von Fachhistorikern rezipiert worden sein. Die sechs Biographien werden hier vorgestellt und vergleichend rezensiert. Dabei ist stets zu bedenken, dass diese Bücher über einen Zeitraum von 50 Jahren hinweg veröffentlicht wurden. Die älteren (Wolf, Bluche, Petitfils) spiegeln zwangsläufig den aktuellen Forschungsstand nicht wider. Und mehr noch: Sie sind in einer Epoche der Geschichtswissenschaft entstanden, die inzwischen selbst der Vergangenheit angehört. Ein Abstand von mehreren Generationen trennt Historiker wie John Wolf und François Bluche von den Historikern, die heute das Zeitalter Ludwigs XIV. erforschen.
Außerhalb Frankreichs gibt es nur wenige Historiker, die sich mit der Geschichte der französischen Monarchie unter den Bourbonen so gut auskennen wie der Brite Philip Mansel (geb. 1951). In den letzten vierzig Jahren hat Mansel zahlreiche Biographien sowie Studien zum französischen Königshof veröffentlicht. Sein zweites Arbeitsgebiet ist die Geschichte des Osmanischen Reiches. Jeder, der sich intensiv mit Ludwig XIV. beschäftigt, nimmt Mansels Biographie des Sonnenkönigs mit hohen Erwartungen zur Hand, aber auch mit einer gewissen Skepsis. Unweigerlich drängt sich die Frage auf: Ist es heute überhaupt noch möglich, dem Leben und der Herrschaft Ludwigs XIV. neue Einsichten abzugewinnen? Wurde die Geschichte des Sonnenkönigs inzwischen nicht schon zu oft erzählt? Gerade in der angelsächsischen Welt herrscht kein Mangel an guten Büchern über Ludwig XIV. Historisch interessierte Laien können mit Gewinn die solide gearbeiteten Werke von Ian Dunlop (1999) und Antonia Fraser (2006) lesen, und im universitären Seminarbetrieb leisten die Bücher von David Sturdy (1998) und Richard Wilkinson (2007) hervorragende Dienste. Welche Leser hat Mansel im Blick? Warum hat er das Buch geschrieben? Die Einleitung gibt darüber keine Auskunft. Stattdessen rekapituliert Mansel im Schnelldurchlauf die Geschichte der französischen Monarchie seit der Merowingerzeit. Er entwickelt keine Fragestellung, und er setzt sich nicht mit der älteren und neueren Forschung über Ludwig XIV. auseinander. Ein Blick ins Quellenverzeichnis verrät, dass Mansel für sein Buch Material aus mehreren europäischen Archiven herangezogen hat. Er macht jedoch keine Angaben zur Art der benutzten Archivalien, und er lässt auch unklar, ob dieses Quellenmaterial geeignet ist, einzelne Aspekte von Ludwigs Leben und Herrschaft in einem neuen oder anderen Licht erscheinen zu lassen. Wer das Buch als Kenner der Materie liest, der wird am Ende enttäuscht sein. Fachleuten bietet die Biographie nichts Neues, und für die Verwendung in der universitären Lehre ist das Buch zu unhandlich. Historisch interessierte Laien dürften das ausufernde Name-Dropping und die Überfülle der vermittelten Informationen anstrengend finden, vielleicht sogar abschreckend. Uneingeschränktes Lob verdient allein die vorzügliche Ausstattung des Buches mit mehreren Landkarten und Stammtafeln, einem Grundriss des Schlosses Versailles und zahlreichen hochwertigen Abbildungen.
Mansel erzählt keine andere Geschichte als die vielen Autoren, die vor ihm Biographien Ludwigs XIV. geschrieben haben. Die einzelnen Kapitel der Geschichte und alle Figuren sind sattsam bekannt. Mitunter fällt das Weiterlesen schwer. Für jeden Autor, der heute ein Buch über Ludwig XIV. schreibt, ist die Vorhersehbarkeit der Geschichte ein großes Handicap. Positiv ist anzumerken, dass Mansel einige Aspekte und Themen ausführlich behandelt, die in anderen Werken über den Sonnenkönig zu kurz kommen. Das gilt für die privaten Interessen und Leidenschaften des Monarchen, Jagd und Gartenbau, aber auch für Kolonialprojekte in Nordamerika oder die diplomatischen Beziehungen zu außereuropäischen Staaten wie China und Siam. Auch die (erfolglosen) Versuche, die Krone des Wahlkönigreiches Polen für Mitglieder des Hauses Bourbon zu erringen, finden Erwähnung. Der Buchtitel ist Programm: Mansel zeigt Ludwig XIV. als Akteur auf einer europäischen und globalen Bühne. Davon abgesehen fehlt es dem Buch durchweg an Originalität. Erwartungsgemäß schildert Mansel das höfische Leben und die Beziehungen innerhalb der Königsfamilie mit großer Kennerschaft. Die Rivalitäten und Kriege der europäischen Staaten während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts behandelt er ebenso kompetent. Seine Haltung zur Außenpolitik Ludwigs XIV. ist kritisch: Der König erzielte zwar achtbare Gebietsgewinne für Frankreich, konnte aber den Aufstieg Englands, Preußens und Österreichs zu Großmächten nicht verhindern. Als Ludwig 1715 starb, war eine hegemoniale Stellung auf dem Kontinent für Frankreich unerreichbar geworden. Den inneren Verhältnissen Frankreichs widmet Mansel wenig Aufmerksamkeit. Weder geht er der Frage nach, welche Bedeutung die lange Herrschaft Ludwigs XIV. für die Entwicklung des französischen Staates hatte, noch macht er sich die Mühe, seinen Lesern die Funktionsweise der Monarchie zu erläutern. Was meinten die Zeitgenossen, wenn sie von der "absoluten Monarchie" sprachen? Welche Grenzen hatte der Handlungs- und Gestaltungsspielraum des Königs? Welche sozialen Gruppen stützten die Monarchie? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem politischen Erbe, das Ludwig seinen Nachfolgern hinterließ, und der Revolution von 1789? Eine Biographie Ludwigs XIV., die mit wissenschaftlichem Anspruch auftritt, sollte diese Fragen erörtern. Mansels Stärke ist die Erzählung, weniger die Analyse. Seine Biographie ist nicht automatisch die beste, nur weil sie die aktuellste ist. Wer eine dezidiert politische Biographie Ludwigs XIV. lesen möchte, der sollte das Buch von Jean-Christian Petitfils zur Hand nehmen, mag auch sein größerer Umfang mehr Zeit für die Lektüre erforderlich machen.
FAZIT
Es ist nicht leicht, ein abschließendes Urteil zu fällen. Verschiedene Leser befassen sich aus unterschiedlichen Gründen mit Ludwig XIV., und sie stellen unterschiedliche Ansprüche. Für eine ernsthafte, vertiefte Beschäftigung mit Ludwig XIV., etwa im Master-Studium oder im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit, sind die Biographien von John Wolf und Jean-Christian Petitfils zweifellos am besten geeignet. Gegen das Buch von François Bluche spricht allein schon der einschüchternde Umfang. Thierry Sarmant und Philip Mansel gehen in ihren Büchern nicht über das hinaus, was man in älteren Werken lesen kann. Pflichtlektüre sind ihre Bücher daher nicht. Mit 458 Seiten Text passt die Biographie von Mansel allerdings besser in unsere Zeit als die deutlich umfangreicheren Bücher von Bluche und Petitfils. Aber Mansel ist ein Autor aus dem 20. Jahrhundert, der eher für Leser seiner Generation schreibt als für die Generation Internet. Die Lesegewohnheiten des Publikums sind heute anders als vor 30 oder 50 Jahren. Leben und Herrschaft Ludwigs XIV. sind ein anspruchsvoller, herausfordernder Gegenstand, für Autoren ebenso wie für Leser. Historisch interessierte Laien besitzen heute nicht mehr das Vorwissen und die historische Allgemeinbildung, über die frühere Generationen verfügten. Das müssen Historiker, die heute ein Buch über Ludwig XIV. für einen breiten Leserkreis schreiben, in Rechnung stellen. Deshalb sei hier am Ende die Frage aufgeworfen: Wie sollte eine seriöse, wissenschaftlich fundierte, gut lesbare Biographie Ludwigs XIV. aussehen, die ins 21. Jahrhundert passt und geeignet ist, jüngere Leser für die Beschäftigung mit dem Sonnenkönig zu gewinnen?