Philip Pomper

 4 Sterne bei 1 Bewertungen

Alle Bücher von Philip Pomper

Neue Rezensionen zu Philip Pomper

Cover des Buches Lenin's Brother: The Origins of the October Revolution (ISBN: 9780393070798)
A

Rezension zu "Lenin's Brother: The Origins of the October Revolution" von Philip Pomper

Andreas_Oberender
Der Student mit der Bombe

Es gehört zu den bekanntesten Leitmotiven der Lenin-Biographik, dass Wladimir Uljanow, der spätere Lenin, zum Revolutionär geworden sei, weil sein älterer Bruder Alexander 1887 wegen der Teilnahme an einem missglückten Attentat auf den Zaren zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Der jüngere Bruder habe sozusagen das Werk des älteren fortgesetzt und sein Leben dem Sturz der verhassten zarischen Autokratie gewidmet. Wer war dieser Alexander Uljanow, der mit nur 21 Jahren am Galgen starb? Wie und warum wurde aus dem Musterschüler und begabten Studenten der Biologie ein Revolutionär und Terrorist, der seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse in den Dienst einer Verschwörergruppe stellte, die Zar Alexander III. am 1. März 1887 ermorden wollte, auf den Tag genau sechs Jahre nach dem erfolgreichen Anschlag auf dessen Vater, Zar Alexander II.?

Diesen Fragen geht der amerikanischen Historiker Philip Pomper, einer der besten Kenner der revolutionären Bewegung im späten Zarenreich, in seinem Buch nach. Das Buch ist keine Biographie. Über einen Menschen, dessen Leben nur 21 Jahre währte, lässt sich schwerlich eine Biographie schreiben, die diesen Namen verdient. Hinzu kommt, dass einer Annäherung an Alexander Uljanow und seine politischen Anschauungen enge Grenzen gesetzt sind. Die Quellenlage ist dürftig. Selbstzeugnisse aus Alexanders Hand - etwa Aufsätze aus der Schul- und Studienzeit oder Briefe an die Familie - sind gering an Zahl und inhaltlich unergiebig. Die Verwandlung des unauffälligen Studenten in einen Verschwörer und Bombenbauer, ein Prozess, der sich Ende 1886, Anfang 1887 innerhalb weniger Monate vollzog, lässt sich nur in groben Zügen nachzeichnen. Vieles bleibt im Unklaren. Memoiren von Angehörigen und Weggefährten, etwa die Erinnerungen der Schwester Anna Uljanowa, müssen mit Vorsicht benutzt werden, da sie Jahrzehnte nach Alexanders Tod entstanden. Es bleiben die Aussagen, die Alexander Uljanow nach seiner Verhaftung und während des Gerichtsverfahrens im April 1887 machte. Aber auch diese Aussagen gestatten nur einen begrenzten Einblick in Uljanows subjektive Gedankenwelt, denn in der Tradition russischer Revolutionäre und Terroristen stilisierte sich der jugendliche Verschwörer zum Werkzeug der Geschichte, zum Vollstrecker vermeintlich objektiver historischer Notwendigkeiten.

Pomper zeigt Alexander Uljanow als Produkt familiärer Prägungen und eines bestimmten sozialen und intellektuellen Milieus. Viele Motive, die man aus der Lenin-Literatur kennt, werden anhand von Alexanders Vita noch einmal durchgespielt: Die Bildungsbeflissenheit der Familie Uljanow; die leidenschaftlichen Debatten der russischen Intelligenzija über den richtigen Weg zur Revolution; die Enttäuschung des Bildungsbürgertums über die als unzureichend empfundenen Reformen Zar Alexanders II.; die Radikalisierung der studentischen Jugend in den 1870er und 1880er Jahren; die repressive Innenpolitik unter Alexander III. Obwohl intellektuell frühreif und von hoher geistiger Regsamkeit, entwickelte Alexander Uljanow keinerlei eigenständige oder originelle politische Ideen. Als Mitglied studentischer Diskussionszirkel an der Petersburger Universität verinnerlichte er lediglich die Anschauungen und Theorien der sogenannten "Volkstümler" (Narodniki), die in linksgerichteten Kreisen en vogue waren. Den Narodniki zufolge war die Intelligenzija die "Geburtshelferin der Revolution". Sie war dazu berufen und verpflichtet, das einfache Volk zum Kampf gegen die Autokratie zu mobilisieren. Die Narodniki wussten sich im Bunde mit der Geschichte, denn ihre "wissenschaftliche" Analyse hatte ergeben, dass die Revolution und der Übergang zum (Agrar-)Sozialismus unausweichlich seien. Man musste dem Gang der Geschichte nur etwas nachhelfen, etwa durch einen spektakulären Schlag ins Zentrum des autokratischen Systems.

Ende 1886 geriet Uljanow in eine Gruppe studentischer Verschwörer, die entschlossen war, Zar Alexander III. zu ermorden. Das Attentat sollte als Initialzündung für die große Volksrevolution dienen. Aus Sicht der Verschwörer war der Zarenmord kein Verbrechen, sondern eine befreiende Tat, die ein Hindernis aus dem Weg räumen und dem vorherbestimmten Geschichtsprozess freien Lauf verschaffen sollte. Alexander Uljanow half bei der Herstellung der Bomben und bei der Formulierung einer Proklamation, die nach dem Attentat verbreitet werden sollte. Die jugendlichen Verschwörer - die meisten von ihnen waren jünger als 25 - gingen dilettantisch zu Werke. Längst war ihnen die zarische Geheimpolizei auf den Fersen. Am 1. März 1887 und in den Tagen danach wurden sie alle verhaftet. Die Vorbereitung des Attentats, die polizeilichen Ermittlungen und der (nichtöffentliche) Prozeß nehmen den meisten Raum in Pompers Buch ein. Nur widerstrebend, aus Rücksichtnahme auf seine verwitwete Mutter und seine noch minderjährigen jüngeren Geschwister, richtete der zum Tod verurteilte Alexander ein Gnadengesuch an den Zaren (das abgelehnt wurde). Es widersprach seinem Selbstverständnis als Revolutionär, um Schonung seines Lebens zu bitten. Wer sich dem Kampf gegen die Autokratie verschrieben hatte, der musste bereit sein, das eigene Leben zu opfern.

Worin besteht Pompers Leistung? Pomper rückt einen Menschen ins historische Bewusstsein zurück, der lange Zeit im Schatten seines jüngeren Bruders stand. Da Alexander Uljanow zu den Narodniki gehörte und skeptische Distanz zum Marxismus wahrte, hatte er aus Sicht der sowjetischen Forschung den "falschen" Weg zur Revolution beschritten. Lenin hingegen, der gelehrige Schüler von Karl Marx, hatte den "richtigen" Weg eingeschlagen. Pomper stellt klar, dass man Alexander Uljanow nicht an seinem jüngeren Bruder messen darf. Man könnte die Verschwörung vom Winter 1886/87 als Fußnote abtun. Man kann sie aber auch, so wie es Pomper tut, als Sonde nutzen, um die Befindlichkeit und die Obsessionen der linken Intelligenzija und der radikalen studentischen Jugend in den Jahren der Reaktion unter Alexander III. zu erkunden. Alexander Uljanow, so kurz sein Leben auch gewesen sein mag, verkörpert geradezu idealtypisch den Habitus dieses Milieus: Frustration über die Beharrungskraft der Autokratie; Frustration über die fehlende politische Teilhabe der Zivilgesellschaft; Frustration aber auch über die Passivität der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit, die "wachgerüttelt" und zur Revolution angeleitet werden musste; Selbststilisierung zur revolutionären Avantgarde, die Russland auf jenen Weg führen werde, der ihm von der Geschichte vorgezeichnet sei, hin zum agrarsozialistischen Volksstaat; Selbstermächtigung zu Gewaltaktionen, die den Geschichtsprozess vorantreiben sollten.

Diese heroische Selbststilisierung stand in eklatantem Kontrast zur fehlenden sozialen Basis all der linken Splittergruppen, die in den 1880er Jahren vergeblich gegen die Autokratie ankämpften. Die Voraussetzungen für eine Revolution waren 1887 nicht im Mindesten gegeben. Der mangelnde Realitätssinn der Gruppe um Alexander Uljanow enthüllte sich darin, dass die Verschwörer eine Gewalttat wiederholen wollten, die schon 1881, bei der Ermordung Alexanders II., keinen Volksaufstand ausgelöst hatte. Die Verschwörer waren so von der Planung des Attentats absorbiert, dass sie darüber die Frage vergaßen, wie denn das Volk aufgewiegelt werden sollte. Von nennenswerten Aufstandsvorbereitungen kann keine Rede sein. Und wie hätte das überhaupt gelingen können, da doch die Gruppe nicht mehr als 15 Mitglieder umfasste? Pompers Buch ist eine Studie über die Irrtümer und Irrwege einer radikalen Minderheit, die ihre Bedeutungs- und Machtlosigkeit mit Gewalt und Terrorismus zu kompensieren suchte. Wer wissen will, wie aus braven Bürgersöhnen Verschwörer und Terroristen wurden, die zu untauglichen Mitteln griffen, um politische Vorstellungen zu verwirklichen, die an der Realität vorbeigingen, der wird bei Pomper aufschlussreiche Antworten finden. 

(HInweis: Diese Rezension habe ich zuerst im August 2014 bei Amazon gepostet)

Gespräche aus der Community

Bisher gibt es noch keine Gespräche aus der Community zum Buch. Starte mit "Neu" die erste Leserunde, Buchverlosung oder das erste Thema.

Community-Statistik

in 1 Bibliotheken

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks