Kategorie: Mystery | Abenteuer | Intrigen | Philosophie [Bis jetzt 2x gehört (Hörbuchversion)]
Besonderheit: Deutliche Parallelen zu der Stammtriologie – und doch ganz anders. Interessantes Spannungsfeld. Gleicht manchmal fast schon einer philosphischen Abhandlung (wie dem Gegenentwurf eines im Werk diskutierten fiktiven Werks).
Worum dreht sich die Handlung?: Das Buch weist viele Erzählstränge auf und oft wäre es schwierig, einzuführen, ohne zu spoilern, deshalb will ich mich hier ausnahmsweise mit Stichfragen begnügen, die durch das ganze Buch führen:
- Warum wird ein Botaniker ermordet, der zuvor Forschungen in Zentralasien angestellt hat?
- Was hat das mit dem Öl seltener Rosen, Vernichtungsaktionen von Rosengärten, Staub und dem Magisterium zu tun?
- Wie kann es sein, dass Menschen sich von ihren Daemonen entfremden oder deren Existenz sogar leugnen? Ist ein dauerhaftes Leben ohne Daemon sogar möglich? Wenn ja, was machen die Daemonen der Menschen nach der Spaltung?
- Ist das „geheime Reich“, die Welt hinter der Wirklichkeit, die Heimat von Geistern, Gespenstern und Spirituellem nur Einbildung oder doch real? Wie soll man das herausfinden? Was haben Daemonen damit zu tun?
- Kann man ein Leben auf die reine Vernunft gründen? Wohin führt das?
- Welche Intrige geschieht im Magisterium? Wie werden andere Institutionen unterwandert? Welche Ziele verfolgt die Geheimgesellschaft „Oakley Street“?
- Warum hat das Magisterium solche Angst vor Lyra?
- Was hat ein junger, genialer aber egozentrischer Alethiometrist mit Lyra zu tun?
Große Themen im Hintergrund: Selbstentfremdung und Lebensüberdruss; Körper und Geist; Vernunft und Phantasie; Machtmissbrauch durch religiöse Institutionen; Philosophie und Religion; Beschaffenheit der menschlichen Natur; Vorurteile und Ausgrenzung; Flucht und Katastrophen; Rache; Menschlichkeit und Nächstenliebe.
Persönliche Notiz: Ich habe alle Vorgängerbände gelesen und war daher halbwegs über die Hintergründe im Bilde. Ohne Vorkenntnis der Vorgängerbände ist das Geschehen wohl deutlich verwirrender. Phasenweise fand ich das Hörbuch genial, phasenweise wollte ich es fast ausschalten. Das macht mir eine Bewertung recht schwer. Das Buch will insgesamt sehr viel auf einmal – erreicht es aber mal mehr, mal weniger gut. Trotz des Umfangs kann kaum ein Handlungsstrang abgeschlossen werden, Nachfolgerband (noch nicht erschienen) ist vonnöten! Ein bisschen Reduktion (auch wenn ich mich nicht erdreiste, darüber nachzudenken, wo) wäre vielleicht kein Fehler gewesen. Rufus Beck als Hörbuchleser (für mich einer der besten Leser überhaupt) konnte mich gut durch die doch manchmal komplizierte Geschichte mitnehmen.
Teilbewertung (Legende *= hat mich nicht überzeugt, **= ausbaufähig, ***=solide/gut zu lesen, ****= sehr gut/klare Empfehlung, *****= exzellent/schwer zu erreichen):
- Handlung ***°
Das Buch vereint sehr viele verschiedene Handlungsstränge, die doch irgendwie meist miteinander verwoben sind. Das ist ziemlich geschickt gemacht. Mir persönlich waren es dabei teilweise etwas viele Handlungsstränge, auch durch den Aufbau (-->) bedingt. Die einzelnen Handlungsstränge bauen geschickt Spannung auf und stecken voller Ideenreichtum! Meist lassen sich die Handlungsstränge einem Charakter zuordnen, was das Folgen ebenfalls erleichtert. Die Handlungsideen sind manchmal originell, sonst solide. Es werden ab und zu kleinere Nebenhandlungen aufgemacht, die gut geeignet sind, (erneut) über die Hauptthematiken zu reflektieren. Manche davon sind vielleicht nicht unbedingt nötig oder wurden von mir als deplatziert empfunden (z.B. die „Hochöfner“-Szene, die mir etwas gewollt erschien und viel Raum einnahm). Reisen und Bewegung bringt von allein Abwechslung in die Szenerie.
In der ersten Hälfte der Handlung werden viele Geheimnisse angerissen und Fäden aufgenommen, zahlreiche Charaktere eingeführt, zumal geht es hier viel um philosophische Grundfragen. Die gestellten Fragen sind hier sehr spannend, die Handlung weist aber immer wieder Längen auf. In der zweiten Hälfte geht es mehr um die Vertiefung und Verknüpfung der aufgeworfenen Geheimnisse, das Ausleben von Intrigen und Beschleunigen der Handlung sowie zahlreiche Begegnungen zwischen einer Erzählperson (meist Lyra) und einer anderen Person, um die philosophischen Fragen zu reflektieren. Dies waren in meinen Augen die interessantesten Teile.
- Aufbau **°
Meist wechseln kurze Erzählpassagen innerhalb eines Kapitels ab, die je aus der Sicht eines anderen Charakters erzählt werden. Diese Charaktere halten sich auch oft an verschiedenen Orten auf, folglich springt man auch gleich zwischen den (Haupt)handlungen mit, was manchmal etwas anstrengend war. Es ergeben sich viele Cliffhanger, die die Spannung hoch halten sollen, was manchmal klappt, manchmal aber auch etwas stört. Wechsel in eine andere Perspektive werden oft durch räumliche Nähe oder das Denken an die entsprechende Person eingeleitet. Da im Hörbuch manchmal zwischen diesen Absätzen keine Pause stattfindet, kann das am Anfang etwas verwirrend sein. Immer wieder (vor allem am Anfang) werden Charaktere und Handlungen aus der Stammtriologie aufgegriffen, manchmal wirkt das fast schon etwas gewollt, aber es sorgt auch für eine Verankerung der Geschichte in derselben, die guttut, weil vieles anders ist.
- Charakterzeichnung ***°
Die Charaktere sind vielschichtig und greifbar gezeichnet. Sie machen Fehler, haben ihre Ziele und dringenden Anliegen und reflektieren ihre Taten und Gedanken. Ein wichtiges Thema ist die Verbindung der Daemonen zu ihren Menschen, dies wird auch durch die Charaktere „nebenbei“ immer wieder reflektiert. Manchmal fehlt mir etwas die Charakterentwicklung trotz oft drastischer Ereignisse. Die meisten Charaktere sind Erwachsene weit über dreißig, was mich etwas überrascht hat, aber natürlich an sich nichts Störendes ist. Manchmal kommt mir Lyra mit ihren zwanzig Jahren zwischen ihnen jedoch etwas deplatziert vor, die intensiven Bindungen zu (hauptsächlich) älteren Personen (oft Männern) wird zwar gut erklärt, fühlt sich jedoch trotzdem etwas sperrig an. Der Hauptantagonist (wenn man ihn so nennen kann – der eigentliche Hauptantagonist ist das anonyme Magisterium mit seinen Vertretern) wird streckenweise fast zum Sympathieträger, eine gute und schillernd gezeichnete Figur. Spannend sich auch Einsichten ins Innere des Magisteriums und fast versöhnlich geschilderte, wenn auch bissige Passagen über Mitglieder desselben, die eigentlich nur das Beste für die Menschen wollen, jedoch dabei erschreckend machtlos sind. Eine sich anbahnende Liebesgeschichte hingegen (auch ein wichtiges stilistisches Element) kam mit bei den zwei beteiligten Charakteren einfach seltsam vor, die Voraussetzungen dafür habe ich nicht sehen können und sie ist für mich leider einfach nicht stimmig.
- Sprache und Stil **°
Zunächst das Positive: Die Sprache wird wieder reichhaltig und kunstvoll verwendet um Szenen zu erzeugen, schafft großartige Bilder und lässt einen in der Geschichte versinken, wie man das von früheren Bänden schon gewohnt war. Der Detailreichtum in dem die Welt, ihre bis jetzt unbekannten Landschaften, Kulturen, Personen und Artefakte beschrieben sind, sind eine der größten Stärken des Buches.
Der Grundtenor hingegen macht es einem nicht immer einfach. Der Stil ist insgesamt sehr negativ, manchmal fast verzweifelt oder trist, gehalten (was natürlich Lyras Geisteszustand gut widerspiegelt, aber auch wenn andere Figuren erzählen, zieht sich dies durch). Zudem störte mich eine oft anwesende unterschwellige Sexualisierung in der Erzählweise, oft nur durch Nebensätze, auch an Stellen, wo dies für Handlung oder Konstruktion nicht erforderlich war und die ich vom Vorwerk nicht kannte. Vielleicht soll durch diese beiden Aspekte das „Erwachsensein“ symbolisiert werden, aber für mich ist dies keine gelungene Symbolik. Auch kommen detaillierte Gewaltbeschreibungen vor.
Es wird viel erklärt, was hilft, die komplizierten Hintergründe im Kopf zu behalten, dabei aber bei all den Handlungssträngen oft etwas den Fluss stört.
Zahlreiche Charaktere kommen mit ihrer Erzählperspektive zu Wort, auch Nebencharaktere nur für ein oder zwei Kapitel, was einerseits sehr interessante Einblicke gewährt, andererseits aber das Gefühl von „zu viel“ manchmal verstärkt.
Das Erzähltempo ist am Anfang sehr langsam und nimmt dann zum Ende der Erzählung hin stark zu. An einem unglaublich spannenden (Zwischen)Zielpunkt wird ein Geheimnis gelöst, ein weiteres aufgemacht, die Haupthandlung in der Schwebe gehalten und dann ist das Buch zu Ende. Ich habe nichts gegen offene Enden, mag es aber nicht besonders, wenn eine Geschichte keinen in sich geschlossenen Handlungsrahmen bildet. Vor allem, wenn bewusst die ganze Zeit auf verschiedene Fragen neugierig gemacht und dann kaum eine davon gelöst wird. Ich vermute, dies ist auch auf die Länge und Opulenz des Buches zurückzuführen. Nach über 18 CDs ist natürlich irgendwann Schluss, aber man wird schon sehr in der Luft hängen gelassen. Ich hoffe, ein Nachfolgerband wird folgen und es ergeht uns nicht wie mit Felix Krull, denn ohne Nachfolgerband ist „Reise ans andere Ende der Welt“ nicht vollständig.
- Zielgruppe(n)
Man sollte auf jeden Fall mit der „Der Goldene Kompass“-Reihe vertraut sein und auch die Kenntnis von „Über den wilden Fluss“ wird eigentlich zumindest in groben Zügen vorausgesetzt. Leser*innen/Hörer*innen sollten geneigt sein, sich mit sehr vielen Handlungssträngen, Charakteren und Exkursen auseinanderzusetzen. Vor allem im ersten Teil braucht man Geduld. Man sollte seine Freude an den sich entspinnenden Intrigen jenseits der Haupthandlung haben. Wem die Religionsinstititutionskritik im Hauptwerk bereits zu viel war, dem sollte gesagt sein, dass in diesem Buch noch viel häufiger und heftiger in diese Kerbe gehauen wird. Mit den erwähnten stilistischen Schwierigkeiten sollte man sich zumindest arrangieren können. Wer seine Freude an den auf zahlreiche Weise beispielhaft beleuchteten Diskussionen um das Verhältnis von Menschen und ihren Daemonen hat und sich für das Prinzip der Daemonen interessiert, kommt aber auf jeden Fall auf seine Kosten, denn das ist ein zentrales Hauptthema des Buches. Auch lässt es sich als phantasievoller fiktiver Reisebericht gut lesen (wird oft etwas heftiger!).
- Fazit ***
Meine Meinung zum Buch ist sehr gespalten. Es gab helle Glanzlichter, die gelungene Aufarbeitung philosophischer Themen (v.a. zu Menschen und Daemonen) und unglaublich viel Abwechslung durch Landschafts-, Ereignis- und Lebensberichte und viele wechselnde Perspektiven und parallele Handlungsstränge, die sehr gut und subtil miteinander verknüpft sind. Dabei wurde es mir insgesamt aber etwas zu viel, manchmal etwas zu gewollt, es war teils schwierig, einen runden Bogen zu erkennen. Es wurde viel zwischen Handlungen und den zahlreichen Erzählcharakteren gesprungen, gab viele Cliffhanger, auch Szenen, die zu aufgeblasen oder für die Handlung hinfällig schienen. Die Charaktere waren gut und vielschichtig gezeichnet, die Beziehungsdynamiken teils seltsam, aber gut ausgebaut.
Die Sprache erzeugt tolle Bilder und untermalt stimmungsvoll die vielfältigen Szenen, der Grundtenor war aber bei allen Erzählcharakteren eher negativ, oft sexuell geladen oder es gab widerholt sehr physische, detaillierte Gewaltdarstellungen. Das Erzähltempo beginnt sehr langsam und steigert sich dann im Laufe der Erzählung stetig. Das Buch ist ohne seinen Nachfolger nicht vollständig, fast keine der gestellten Fragen wird am Ende aufgelöst und es bricht an einem sehr spannenden Punkt ab! Das war nach so vielen Stunden des Hörens (positiver Aspekt: man hat auf jeden Fall lange etwas davon) recht enttäuschend (wenn auch ab einem gewissen Punkt absehbar).
Definitiv nicht etwas für alle Leser/Hörer (--> Zielgruppen)! Lobenswert sei die Leistung von Rufus Beck als Leser dieses sehr komplex aufgebauten Werks hervorzuheben!