In Nemesis, einem der späten Romane von Philip Roth (Original 2010, 220 Seiten), entwirft der Autor das beklemmende Bild einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Schauplatz ist Newark, New Jersey, im Sommer 1944 – eine Polioepidemie breitet sich aus, trifft besonders Kinder, bringt Krankheit, Tod und eine wachsende Atmosphäre von Angst und Ohnmacht.
Im Zentrum der Geschichte steht Eugene "Bucky" Cantor, ein junger Sportlehrer, der selbst nicht in den Krieg ziehen darf, da seine Sehfähigkeit zu schlecht ist. Stattdessen versucht er, in seiner Heimatstadt für Ordnung, Hygiene und Moral zu sorgen – mit großem Pflichtgefühl, aber auch mit einer Starrheit, die ihn zunehmend isoliert.
Bucky will alles richtig machen. Vielleicht zu richtig. Seine Unnahbarkeit zieht sich durch das ganze Buch – nicht nur als Charakterzug, sondern fast als literarische Strategie. Auch im Buchclub (wir besprachen das Buch zu sechst) blieb Bucky den meisten von uns fremd. Er wirkt wie ein Mensch, der sich aus Prinzip gegen emotionale Nähe abschottet. Seine Biografie – aufgewachsen bei den Großeltern, die Mutter bei der Geburt gestorben, der Vater abwesend – erklärt manches, aber macht ihn nicht unbedingt zugänglicher.
Bemerkenswert ist die Aktualität des Romans: Zwar wurde Nemesis 2010 veröffentlicht – also lange vor Corona –, doch die Parallelen zur jüngsten Pandemie sind frappierend. Die unklare Herkunft des Virus, das Misstrauen gegenüber den Behörden und Personen, die verzweifelte Suche nach Schuld und Verantwortung – all das haben wir in der Coronazeit auch erlebt. Roth zeigt eindrucksvoll, wie Epidemien nicht nur Körper, sondern auch Gesellschaften befallen.
Im kurzen dritten Abschnitt, der im Jahr 1971 spielt, blickt man auf den gealterten Bucky zurück. Dieses aus meiner Sicht düstere Kapitel zeigt die Spuren, die die Polioepidemie – und seine rigide Art, mit Schuld und Verantwortung umzugehen – in seinem Leben hinterlassen haben. Es ist ein ernüchternder, fast trostloser Ausblick auf ein Leben, das von Verzicht, Isolation und Selbstanklage geprägt ist.
Ob das Buch nun Weltliteratur ist, darüber gingen in unserem Buchclub die Meinungen auseinander. Stilistisch ist Roth brillant, wie gewohnt nüchtern, schnörkellos und präzise. Die moralischen Fragen, die sich durch den Text ziehen – über Schuld, Kontrolle und Ohnmacht – regen definitiv zum Nachdenken an. Und doch fehlt etwas: emotionale Nähe, vielleicht auch literarischer Wagemut