Cover des Buches Rost (ISBN: 9783608938937)
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Rezension zu Rost von Philipp Meyer

Rezension zu "Rost" von Philipp Meyer

von Solaris vor 13 Jahren

Rezension

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Solarisvor 13 Jahren
Sozialkritische Prosa hat heutzutage nicht gerade Konjunktur. Aber Philipp Meyer hat mit seinem Debütroman "Rost" über die Deindustrialisierung des Westens genau den Nerv der Zeit getroffen und in den USA für eine literarische Sensation gesorgt. Zahlreiche klassische Einflüsse und Protagonisten in anscheinend ausweglosen Situationen, die sich dafür entscheiden, moralisch zu handeln, berechtigen für viele einen Platz in der Reihe der großen amerikanischen Romane. Für mich leider nicht unbedingt. Nach der Schließung der Stahlwerke ist aus dem ehemaligen Industriestandort Buell Ruinenland geworden. Der Footballspieler Billy Poe, der mit einem Sportstipendium studieren könnte, hat sich dagegen entschieden und lebt im Trailer seiner Mutter einfach in den Tag hinein. Sein bester Freund Isaac hat dagegen Pläne. Der begabte Junge möchte Buell verlassen und Astrophysiker werden. Seine Schwester Lee hat es schon geschafft - sie studiert Jura in Yale und ist mit einem reichen Mann verheiratet, kann aber ihre erste Liebe Billy Poe nicht vergessen. Die beiden Freunde machen sich auf den Weg und werden in einer verlassenen Fabrikhalle von Obdachlosen überfallen. Isaac tötet einen von ihnen, um Poe zu retten, aber der Sportler ist wegen Schlägereien polizeibekannt und wird selbst verhaftet. Während er im Gefängnis auf seinen Prozess wartet, flieht Isaac erneut. Wie in der späteren Handlung angedeutet wird, ist der Roman eigentlich marxistisch beeinflusst und versucht jeden möglichen Konflikt auf soziale Ursachen zurückzuführen. Der ungewollte Mord findet im verlassenen Stahlwerk statt, was suggerieren sollte, dass die Schließung der Werke die Ursache allen Übels ist. Davon ist ganz definitiv die ältere Generation betroffen. Aber die jüngere? Hätten aus Isaac und Poe sonst etwa zufriedene Stahlarbeiter werden können? Und ist ihre jetzige Situation wirklich so perspektivlos? Billy Poe hat sich gegen das Studium entschieden, bloß weil er keine Bücher lesen möchte. In dieser von der Arbeitslosigkeit geplagten Kleinstadt hat er schon drei Arbeitsplätze bekommen (!), lässt sich aber lieber von seiner Mutter aushalten. Die Probleme seines Freundes Isaac haben genau so wenig mit dem Thema Wirtschaft zu tun. Die "sozialen Kräfte", die, wie ständig vermittelt wird, das Leben der beiden lenken sollten, haben auf mich eher wie eine Art religiöse Schicksalhaftigkeit oder wie ein böses Omen gewirkt. Und nicht wie kausale Zusammenhänge. Oder liegt es etwa wirklich an den Eltern? Nachdem Isaacs Vater, der alte Stahlarbeiter Henry, seinen Job vor Ort verlieren und einen neuen aufnehmen muss, findet ein Arbeitsunfall statt, der seinerseits zu einer Familientragödie führt. Das passt zwar zum fatalistischen Grundton des Romans, aber, um rational zu bleiben: Wäre das anders gewesen, wenn dieser Unfall im hiesigen nicht geschlossenen Stahlwerk passiert wäre? Die anderen ausgebeuteten, verbitterten oder auch zu Gewalt neigenden Figuren des Romans hat auch nicht erst die Arbeitslosigkeit erschaffen: Es gab sie auch in der realistischen Prosa aus der Blütezeit der Industrialisierung, von der er eigentlich beeinflusst ist. Diese wirklich ernsthaften Probleme verwandelten sich für mich aber endgültig in eine Farce, als es um ihre mögliche Lösung ging. Die einzigen Stellen, die das thematisieren, finden sich in den Kapiteln von Isaacs sozialistisch geprägten Schwester Lee, die im Laufe der Handlung zu einer der wichtigsten Figuren wird. "Wäre das in Frankreich so passiert, dachte sie, hätten die das ganze Land lahmgelegt. Und verhindert, dass die Stahlwerke geschlossen wurden" (S. 297). Die Figur hat wohl nicht mitbekommen, dass es in Frankreich schon längst so passiert ist, nur dass die in Frage kommenden Werke trotz heftiger Auseinandersetzungen doch geschlossen wurden. Die Zurückführung globaler sozialer Probleme auf eine erfundene nationale Mentalität ("typisch amerikanisch") fand ich nicht nur herzzerreißend naiv, sondern auch noch problematisch. Das zweite große Thema des Romans ist die große Freundschaft zwischen Isaac und Billy Poe, von der ich auch nicht viel mitbekommen habe. Poe ist anfangs nicht einmal in Isaacs Plänen eingeweiht und aus den Gedanken beider Figuren wurde für mich überhaupt nicht deutlich, dass sie einander sonderlich vermissen werden. Nach dem Totschlag flieht Isaac, ohne sich die geringsten Sorgen um Poe zu machen, und wünscht sich nur einmal, sein Freund wäre da, bloß weil er einen Beschützer braucht. Der Ausgangskonflikt hatte so viel tragisches Potenzial: In der Vergangenheit hat Poe Isaacs Leben gerettet, dann hat Isaac getötet, ohne es zu wollen, um seinerseits Poe zu retten. Beide Figuren sind Helden und gleichzeitig "schuldlos schuldig". Aus diesem wunderbaren Einfall hat der Autor leider so wenig gemacht, dass der tragische Konflikt im allgemeinen Fatalismus der Geschichte einfach untergeht. Warum habe ich trotzdem drei Sterne vergeben? Philipp Meyer hat die allgemeine Ratlosigkeit der Zeit und seine Überzeugungen sehr konsequent dargestellt. Die Figuren sind nicht idealisiert, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit gezeichnet. Das Gleichgewicht zwischen Realismus und romantischem Pathos ist auch sehr gelungen. Und obwohl die Sprache nicht nur nicht originell ist, sondern sogar recht retrograd, und das Ziel, einen Klassiker zu schreiben, viel zu offensichtlich, hat Philipp Meyer aus seinen vielen Einflüssen doch einen eigenen Stil erschaffen. Wegen seiner ungewohnten Erzählperspektive ist der Roman anfangs alles andere als flüssig zu lesen. Er zeichnet sich durch einen ständigen, unvermittelten Wechsel zwischen Auktorial- und Personalerzähler innerhalb des gleichen Absatzes aus. Der personale Erzähler taucht dann über die indirekte und die erlebte Rede immer tiefer und tiefer in die Figur ein und verwandelt sich stellenweise in einen Bewusstseinsstrom, von dem aber die Grammatik und Interpunktion des Textes nicht betroffen sind. Einige der Einflüsse sind in der Handlung selbst erwähnt. Lee weist etwa auf den Roman hin, der fast 100 Jahre vor "Rost" international zum Inbegriff der Schreibtechnik des Bewusstseinsstroms geworden ist, auch wenn er nicht der erste ist: James Joyces "Ulysses". Das Buch Meyers zeigt allerdings mehr Ähnlichkeiten mit dem dort unerwähnten amerikanischen Vorbild dieser Technik - William Faulkners "Schall und Wahn", in dem auch eine Figur wie Isaac mit gestohlenem Geld flieht. Zu Lees weiteren Lektüren gehören auch existentialistische Werke (Sartre), so dass die Thematik Vorbestimmtheit, Wahlfreiheit und Moral auch ihre Vorbilder hat. Kerouac taucht schon im ersten Kapitel auf - in der Isaac auch zu sehr an Salingers Holden erinnert. Einige Ähnlichkeiten mit den Themen und Charakteren Steinbecks, Hemingways und der großen Entdeckung der letzten Jahre Cormac McCarthy können auch entdeckt werden - und bestimmt zahlreiche weitere, wenn man möchte.
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