Kardinal Jules Mazarin (1602-1661), geboren unter dem Namen Giulio Mazarini, gehört zu den bedeutendsten europäischen Staatsmännern des 17. Jahrhunderts. Doch außerhalb Frankreichs ist sein Name kaum bekannt. Mazarins erstaunliche und wechselvolle politische Laufbahn sucht ihresgleichen: Nach einigen Jahren diplomatischer Tätigkeit im Dienst des Papsttums, darunter als Nuntius in Paris (1634-1636), ließ sich der gebürtige Römer 1640 dauerhaft in Frankreich nieder. Kardinal Richelieu, der Prinzipalminister Ludwigs XIII., schätzte Mazarin seit langem. Er betraute den Italiener mit wichtigen politischen Aufgaben und empfahl auf dem Totenbett dem König, Mazarin als Minister in die Regierung zu berufen. Im Mai 1643, nachdem Richelieu und der König binnen weniger Monate verstorben waren, übernahm Mazarin die Leitung der Staatsgeschäfte. Ludwig XIV., der neue König, war ein Kind von fünf Jahren. Zusammen mit der Königinmutter und Regentin Anna steuerte Mazarin das Königreich durch dramatische und turbulente Jahre. Er trat ein schweres Erbe an: Der große Krieg in Europa wollte kein Ende nehmen; die Staatsfinanzen waren zerrüttet; quer durch alle Bevölkerungsschichten regte sich Unzufriedenheit. Von Anfang an hatte Mazarin Mühe, sich der Intrigen seiner Gegner und Kritiker zu erwehren. Die innenpolitischen Spannungen entluden sich während der Fronde (1648-1653), der letzten großen Krise, die die französische Monarchie vor der Revolution zu bestehen hatte. Zweimal musste der Kardinal für kurze Zeit ins Exil gehen. Doch schließlich vollbrachte Mazarin das für unmöglich Gehaltene: Er führte das Königtum gestärkt aus der Fronde heraus, und mit den Friedensschlüssen von 1648 (Westfälischer Frieden) und 1659 (Pyrenäenfrieden) ebnete er den Weg für Frankreichs Aufstieg zur europäischen Großmacht. Anders als sein Vorgänger und Förderer Richelieu hatte Mazarin am Ende seines Lebens alle innen- und außenpolitischen Ziele erreicht. Sein Werk war vollendet. Und mehr noch: Als Prinzipalminister der französischen Krone war der Spross einer weitgehend mittellosen Familie zu märchenhaftem Reichtum gelangt.
Die Zahl der Mazarin-Biographien ist überschaubar. Sieht man von der Biographie des britischen Historikers Geoffrey Treasure (1995) ab, so sind alle seriösen und beachtenswerten Bücher über den Kardinal in Frankreich erschienen. Es handelt sich um die Werke von Georges Dethan (1981), Pierre Goubert (1990), Claude Dulong (1999) und Gérard Montassier (2015). Die vier Bücher werden hier vorgestellt und vergleichend rezensiert. Sie haben eines gemeinsam: Keines von ihnen wurde ins Deutsche oder Englische übersetzt. In den 1970er Jahren erschien die populärwissenschaftliche Mazarin-Biographie des französischen Schriftstellers Paul Guth auf Deutsch. Sie ist für eine ernsthafte Beschäftigung mit Mazarin ebenso ungeeignet wie die Biographie des deutschen Journalisten Uwe Schultz (2018). In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zählte Pierre Goubert (1915-2012) zu den international bekanntesten französischen Historikern. Sein Name und sein wissenschaftliches Werk sind untrennbar verbunden mit der Blüte der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Gouberts Buch "Louis XIV et vingt millions de Français" (1966) avancierte in Frankreich und weit darüber hinaus zum Bestseller und Klassiker. Die Zeiten, als Bücher französischer Historiker in größerer Zahl ins Deutsche übersetzt wurden, sind lange vorbei. Mangels Übersetzungen bleibt die aktuelle französische Forschung zum Zeitalter Ludwigs XIV. deutschen Lesern unzugänglich. An der politischen Geschichte hatte Pierre Goubert wenig Interesse. Umso erstaunlicher ist es, dass er im Ruhestand eine Mazarin-Biographie in Angriff nahm. Bei der Beurteilung des Buches ist das vorgerückte Alter des Autors in Rechnung zu stellen. Goubert hatte die 70 überschritten, als er an der Biographie arbeitete. Es fehlte ihm entweder an der Kraft oder an der Bereitschaft, sein Buch auf ein breites Quellenfundament zu stellen. Der Kontrast zu dem wunderbar quellennahen Buch von Georges Dethan könnte greller kaum sein. Die exzellente Quellenlage findet in Gouberts Darstellung überhaupt keinen Niederschlag. Das ist befremdlich, um nicht zu sagen absurd.
Da er darauf verzichtet hat, Mazarins umfangreiche Korrespondenz und andere edierte Quellen durchzuarbeiten, gelangt Goubert nicht zu eigenständigen Erkenntnissen. Das gilt auch für spezielle Aspekte wie Mazarins Mäzenatentum oder Vermögen. Im gesamten Buch finden sich – man glaubt es kaum – nur zwei Zitate aus Briefen des Kardinals (S. 250, 318). Zwei Briefe von Tausenden! Es entsteht kein aussagekräftiges Bild vom Wirken des Kardinalministers im politischen Alltagsgeschäft oder von seinem Verhältnis zur Königinmutter Anna und zum jungen König. Goubert fasst die ältere und neuere Sekundärliteratur zusammen; mehr leistet er nicht. Er setzt keine eigenen Akzente, formuliert keine überraschenden Thesen. Goubert würdigt Mazarins herausragende diplomatische Fähigkeiten und seine Verdienste als politischer Lehrmeister Ludwigs XIV., aber das kann schwerlich als originell gelten. Im zweiten Kapitel erläutert Goubert den historischen Kontext (Demographie, Wirtschaft, Mentalitäten, politische Strukturen). Damit lässt er es nicht bewenden. Viele andere Kapitel enthalten ebenfalls kontextualisierende Passagen und Exkurse. Mazarin verschwindet dann für mehrere Seiten aus dem Fokus. Das darf in einer Biographie nicht passieren. Mehrfach referiert Goubert ausführlich die Forschungen von Daniel Dessert und Françoise Bayard zum Steuer- und Finanzwesen der französischen Monarchie Mitte des 17. Jahrhunderts. Das ist eine komplexe und trockene Materie, die eigentlich nicht in eine Biographie gehört. Mit Hilfe eines Untertitels hätte Goubert klarstellen sollen, dass das Buch keine konventionelle Biographie ist. Erwartungsgemäß nehmen Frankreichs Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg und die Fronde breiten Raum in der Darstellung ein. Einmal mehr erweist sich Goubert als eingefleischter Sozialhistoriker. Not und Leid des einfachen Volkes interessieren ihn weitaus mehr als das politische, militärische und diplomatische Geschehen. Wie Mazarin aus der Ferne mit den französischen Vertretern auf den Friedenskongressen von Münster und Osnabrück zusammenarbeitete, bleibt unklar. Vage und verschwommen ist auch das Bild von den schwierigen Verhandlungen, die Ende 1659 zum Pyrenäenfrieden mit Spanien führten. Claude Dulong behandelt dieses Thema sehr viel ausführlicher und anschaulicher als Pierre Goubert. Zur inhaltlichen Unergiebigkeit des Buches passt die ärmliche Ausstattung: Der Band enthält zwar eine umfangreiche Bibliographie; Abbildungen, Landkarten und Stammtafeln fehlen jedoch.
FAZIT
Die Bücher von Georges Dethan und Claude Dulong ergänzen einander sehr gut. Sie sollten daher zusammen gelesen werden. Die Biographien von Pierre Goubert und Gérard Montassier verdienen aufgrund ihrer Schwächen und Defizite keine Leseempfehlung.