Pierre Goubert

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Autor*in von Mazarin.

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Cover des Buches Mazarin (ISBN: 9782213016504)

Mazarin

(1)
Erschienen am 12.09.1990

Neue Rezensionen zu Pierre Goubert

Cover des Buches Mazarin (ISBN: 9782213016504)
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Rezension zu "Mazarin" von Pierre Goubert

Andreas_Oberender
Vier Bücher über Kardinal Mazarin. Teil 2: Pierre Goubert

Kardinal Jules Mazarin (1602-1661), geboren unter dem Namen Giulio Mazarini, gehört zu den bedeutendsten europäischen Staatsmännern des 17. Jahrhunderts. Doch außerhalb Frankreichs ist sein Name kaum bekannt. Mazarins erstaunliche und wechselvolle politische Laufbahn sucht ihresgleichen: Nach einigen Jahren diplomatischer Tätigkeit im Dienst des Papsttums, darunter als Nuntius in Paris (1634-1636), ließ sich der gebürtige Römer 1640 dauerhaft in Frankreich nieder. Kardinal Richelieu, der Prinzipalminister Ludwigs XIII., schätzte Mazarin seit langem. Er betraute den Italiener mit wichtigen politischen Aufgaben und empfahl auf dem Totenbett dem König, Mazarin als Minister in die Regierung zu berufen. Im Mai 1643, nachdem Richelieu und der König binnen weniger Monate verstorben waren, übernahm Mazarin die Leitung der Staatsgeschäfte. Ludwig XIV., der neue König, war ein Kind von fünf Jahren. Zusammen mit der Königinmutter und Regentin Anna steuerte Mazarin das Königreich durch dramatische und turbulente Jahre. Er trat ein schweres Erbe an: Der große Krieg in Europa wollte kein Ende nehmen; die Staatsfinanzen waren zerrüttet; quer durch alle Bevölkerungsschichten regte sich Unzufriedenheit. Von Anfang an hatte Mazarin Mühe, sich der Intrigen seiner Gegner und Kritiker zu erwehren. Die innenpolitischen Spannungen entluden sich während der Fronde (1648-1653), der letzten großen Krise, die die französische Monarchie vor der Revolution zu bestehen hatte. Zweimal musste der Kardinal für kurze Zeit ins Exil gehen. Doch schließlich vollbrachte Mazarin das für unmöglich Gehaltene: Er führte das Königtum gestärkt aus der Fronde heraus, und mit den Friedensschlüssen von 1648 (Westfälischer Frieden) und 1659 (Pyrenäenfrieden) ebnete er den Weg für Frankreichs Aufstieg zur europäischen Großmacht. Anders als sein Vorgänger und Förderer Richelieu hatte Mazarin am Ende seines Lebens alle innen- und außenpolitischen Ziele erreicht. Sein Werk war vollendet. Und mehr noch: Als Prinzipalminister der französischen Krone war der Spross einer weitgehend mittellosen Familie zu märchenhaftem Reichtum gelangt.

Die Zahl der Mazarin-Biographien ist überschaubar. Sieht man von der Biographie des britischen Historikers Geoffrey Treasure (1995) ab, so sind alle seriösen und beachtenswerten Bücher über den Kardinal in Frankreich erschienen. Es handelt sich um die Werke von Georges Dethan (1981), Pierre Goubert (1990), Claude Dulong (1999) und Gérard Montassier (2015). Die vier Bücher werden hier vorgestellt und vergleichend rezensiert. Sie haben eines gemeinsam: Keines von ihnen wurde ins Deutsche oder Englische übersetzt. In den 1970er Jahren erschien die populärwissenschaftliche Mazarin-Biographie des französischen Schriftstellers Paul Guth auf Deutsch. Sie ist für eine ernsthafte Beschäftigung mit Mazarin ebenso ungeeignet wie die Biographie des deutschen Journalisten Uwe Schultz (2018). In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zählte Pierre Goubert (1915-2012) zu den international bekanntesten französischen Historikern. Sein Name und sein wissenschaftliches Werk sind untrennbar verbunden mit der Blüte der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Gouberts Buch "Louis XIV et vingt millions de Français" (1966) avancierte in Frankreich und weit darüber hinaus zum Bestseller und Klassiker. Die Zeiten, als Bücher französischer Historiker in größerer Zahl ins Deutsche übersetzt wurden, sind lange vorbei. Mangels Übersetzungen bleibt die aktuelle französische Forschung zum Zeitalter Ludwigs XIV. deutschen Lesern unzugänglich. An der politischen Geschichte hatte Pierre Goubert wenig Interesse. Umso erstaunlicher ist es, dass er im Ruhestand eine Mazarin-Biographie in Angriff nahm. Bei der Beurteilung des Buches ist das vorgerückte Alter des Autors in Rechnung zu stellen. Goubert hatte die 70 überschritten, als er an der Biographie arbeitete. Es fehlte ihm entweder an der Kraft oder an der Bereitschaft, sein Buch auf ein breites Quellenfundament zu stellen. Der Kontrast zu dem wunderbar quellennahen Buch von Georges Dethan könnte greller kaum sein. Die exzellente Quellenlage findet in Gouberts Darstellung überhaupt keinen Niederschlag. Das ist befremdlich, um nicht zu sagen absurd. 

Da er darauf verzichtet hat, Mazarins umfangreiche Korrespondenz und andere edierte Quellen durchzuarbeiten, gelangt Goubert nicht zu eigenständigen Erkenntnissen. Das gilt auch für spezielle Aspekte wie Mazarins Mäzenatentum oder Vermögen. Im gesamten Buch finden sich – man glaubt es kaum – nur zwei Zitate aus Briefen des Kardinals (S. 250, 318). Zwei Briefe von Tausenden! Es entsteht kein aussagekräftiges Bild vom Wirken des Kardinalministers im politischen Alltagsgeschäft oder von seinem Verhältnis zur Königinmutter Anna und zum jungen König. Goubert fasst die ältere und neuere Sekundärliteratur zusammen; mehr leistet er nicht. Er setzt keine eigenen Akzente, formuliert keine überraschenden Thesen. Goubert würdigt Mazarins herausragende diplomatische Fähigkeiten und seine Verdienste als politischer Lehrmeister Ludwigs XIV., aber das kann schwerlich als originell gelten. Im zweiten Kapitel erläutert Goubert den historischen Kontext (Demographie, Wirtschaft, Mentalitäten, politische Strukturen). Damit lässt er es nicht bewenden. Viele andere Kapitel enthalten ebenfalls kontextualisierende Passagen und Exkurse. Mazarin verschwindet dann für mehrere Seiten aus dem Fokus. Das darf in einer Biographie nicht passieren. Mehrfach referiert Goubert ausführlich die Forschungen von Daniel Dessert und Françoise Bayard zum Steuer- und Finanzwesen der französischen Monarchie Mitte des 17. Jahrhunderts. Das ist eine komplexe und trockene Materie, die eigentlich nicht in eine Biographie gehört. Mit Hilfe eines Untertitels hätte Goubert klarstellen sollen, dass das Buch keine konventionelle Biographie ist. Erwartungsgemäß nehmen Frankreichs Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg und die Fronde breiten Raum in der Darstellung ein. Einmal mehr erweist sich Goubert als eingefleischter Sozialhistoriker. Not und Leid des einfachen Volkes interessieren ihn weitaus mehr als das politische, militärische und diplomatische Geschehen. Wie Mazarin aus der Ferne mit den französischen Vertretern auf den Friedenskongressen von Münster und Osnabrück zusammenarbeitete, bleibt unklar. Vage und verschwommen ist auch das Bild von den schwierigen Verhandlungen, die Ende 1659 zum Pyrenäenfrieden mit Spanien führten. Claude Dulong behandelt dieses Thema sehr viel ausführlicher und anschaulicher als Pierre Goubert. Zur inhaltlichen Unergiebigkeit des Buches passt die ärmliche Ausstattung: Der Band enthält zwar eine umfangreiche Bibliographie; Abbildungen, Landkarten und Stammtafeln fehlen jedoch.

FAZIT

Die Bücher von Georges Dethan und Claude Dulong ergänzen einander sehr gut. Sie sollten daher zusammen gelesen werden. Die Biographien von Pierre Goubert und Gérard Montassier verdienen aufgrund ihrer Schwächen und Defizite keine Leseempfehlung.

Cover des Buches Louis XIV (ISBN: 9782262028244)
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Rezension zu "Louis XIV" von Jean-Christian Petitfils

Andreas_Oberender
Sechs "große" Biographien Ludwigs XIV. Teil 3: Jean-Christian Petitfils

Ludwig XIV. von Frankreich (1638-1715) gehört zu den bedeutendsten Monarchen der europäischen Geschichte. Die ältere und neuere Literatur über den sogenannten Sonnenkönig und die Geschichte Frankreichs im 17. Jahrhundert ist kaum zu überschauen. Selbst bei einer Beschränkung auf biographische Werke kann ein interessierter Leser und erst recht ein Leser mit Fremdsprachenkenntnissen zwischen Dutzenden Büchern unterschiedlichen Umfanges und Anspruches wählen. Alle aus wissenschaftlicher Sicht großen und bedeutenden Biographien Ludwigs XIV. stammen aus Frankreich, Großbritannien und den USA. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat noch nie eine herausragende Biographie des Bourbonen-Königs hervorgebracht. Jahrzehntelang waren auf dem deutschen Buchmarkt mehrere aus dem Englischen und Französischen übersetzte Biographien verfügbar, die allesamt populärwissenschaftlich und daher von begrenztem Wert sind. Genannt seien die Bücher der Briten W.H. Lewis (1959), Vincent Cronin (1964) und Nancy Mitford (1966), des Franzosen Philippe Erlanger (1965) und des Amerikaners Olivier Bernier (1987). Was deutsche Historiker und Sachbuchautoren zur biographischen Literatur über Ludwig XIV. beigesteuert haben, ist allenfalls zweite Wahl, wenn nicht gar vollkommen unbrauchbar. Die Biographie von Uwe Schultz (2006) ist ein Ärgernis wie alle Bücher dieses Autors, und die schmalen Bücher von Martin Wrede (2015), Mark Hengerer (2015) und Anuschka Tischer (2017) ermöglichen lediglich eine erste Annäherung an Ludwig XIV. Nur wenige Biographien des Königs genügen vom Umfang und Niveau her wissenschaftlichen Ansprüchen. Das gilt für die Werke von John Wolf (1968), François Bluche (1986), Jean-Christian Petitfils (1995), Geoffrey Treasure (2001), Thierry Sarmant (2012) und Philip Mansel (2019). Diese sechs Biographien haben eines gemeinsam: Sie wurden allesamt nicht ins Deutsche übersetzt und dürften deshalb in Deutschland nur von Fachhistorikern rezipiert worden sein. Die sechs Biographien werden hier vorgestellt und vergleichend rezensiert. Dabei ist stets zu bedenken, dass diese Bücher über einen Zeitraum von 50 Jahren hinweg veröffentlicht wurden. Die älteren (Wolf, Bluche, Petitfils) spiegeln zwangsläufig den aktuellen Forschungsstand nicht wider. Und mehr noch: Sie sind in einer Epoche der Geschichtswissenschaft entstanden, die inzwischen selbst der Vergangenheit angehört. Ein Abstand von mehreren Generationen trennt Historiker wie John Wolf und François Bluche von den Historikern, die heute das Zeitalter Ludwigs XIV. erforschen.

Der 1944 geborene Jean-Christian Petitfils ist einer der bekanntesten Historiker Frankreichs. An seinen Büchern kommt niemand vorbei, der sich – sei es als Fachmann, sei es als historisch interessierter Laie – mit der Geschichte Frankreichs unter den Bourbonen beschäftigt. Vor allem seine Biographien Ludwigs XIII., Ludwigs XIV., Ludwigs XV. und Ludwigs XVI. sind Standardwerke und unverzichtbare Pflichtlektüre. Petitfils ist ein Mann von ehrfurchtgebietender Arbeitskraft und Produktivität. Nach einer wissenschaftlichen Ausbildung als Historiker und Politikwissenschaftler war er jahrzehntelang in leitenden Funktionen im Bankwesen tätig. Parallel dazu betrieb er historischen Studien, die Niederschlag in zahlreichen Büchern fanden. Petitfils’ Werke zeichnen sich durch profunde Sachkenntnis und hohe sprachliche Qualität aus. Die Biographie Ludwigs XIV. erschien zuerst 1995 und wurde seither unzählige Male in verschiedenen Formaten neu aufgelegt. Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und dürfte in Frankreich mit großem Abstand die meistverkaufte und meistgelesene Biographie des Sonnenkönigs sein. Diesen langanhaltenden Erfolg hat das Buch vollauf verdient. Leider hat es außerhalb Frankreichs keine Leserschaft finden können. Vielleicht hat der stattliche Umfang (700 Textseiten) deutsche und angelsächsische Verlage vor einer Übersetzung zurückschrecken lassen. Es ist sehr bedauerlich, dass diese hervorragende Biographie deutschen Lesern ohne Französischkenntnisse nicht zugänglich ist. Petitfils’ Biographie erschien neun Jahre nach dem Werk von François Bluche. Ein Vergleich beider Bücher ist naheliegend. Ähnlich wie Bluche hat Petitfils kein unveröffentlichtes Archivmaterial herangezogen. Petitfils nimmt gegenüber Ludwig XIV. eine sehr viel kritischere Haltung ein als Bluche, dessen Werk eine irritierend apologetische Tendenz aufweist. Im Gegensatz zu Bluche hat Petitfils die angelsächsische Forschung zum Zeitalter des Sonnenkönigs verarbeitet. Das ist ein wesentlicher Vorzug, eine große Stärke seiner Biographie. 

Auch wenn Petitfils dem Familien- und Liebesleben, der Bautätigkeit und dem Mäzenatentum des Königs angemessenen Raum widmet, so hat er doch eine dezidiert politische Biographie geschrieben. Er interessiert sich in erster Linie für die Funktionsweise der französischen Monarchie während der ungewöhnlich langen Regierungszeit Ludwigs XIV. Die ältere französische Forschung hielt den König für den Schöpfer eines straff zentralisierten und effizient regierten Staates. In vielen älteren Werken erscheint Ludwig XIV. als kühner Reformer, der sein Land in die Moderne führt, unterstützt von einem loyalen Beamtenapparat. In den letzten Jahrzehnten hat die internationale Forschung das traditionelle Bild von der Herrschaft des Sonnenkönigs in Frage gestellt und in großen Teilen widerlegt. Heute sind sich Historiker einig: Frankreich vollzog unter Ludwig XIV. keinen großen Entwicklungssprung. Das Königreich blieb ein vormoderner Staat mit vielen altertümlich anmutenden Eigenheiten und Wesenszügen. Der Monarch und seine Minister erzielten zwar eine beachtliche Steigerung der Steuereinnahmen, hatten aber nicht den Ehrgeiz, die schwerfälligen Verwaltungsstrukturen und das byzantinisch verworrene Steuerwesen grundlegend zu reformieren. Die Modernisierung, von der französische Historiker aus der Zeit der Dritten Republik (1871-1940) gerne sprachen, lag weit jenseits des Sinnhorizonts des Königs und seiner Ratgeber. Wie Petitfils durchweg betont, hatte Ludwig, ein Monarch von pragmatischer Denkart, zwei grundlegende politische Ziele: Zum einen sollten nach den Turbulenzen, die Frankreich in der ersten Jahrhunderthälfte erlebt hatte, im Innern Ruhe, Ordnung und Stabilität herrschen. Zum anderen sollte die Sicherheit des Königreiches durch Optimierung des Grenzverlaufs im Nordosten und Osten verbessert werden. Hochfliegende Visionen für die Modernisierung seines Landes besaß Ludwig genauso wenig wie die Absicht, Europa einer französischen Universalmonarchie zu unterwerfen. Dieser von Ludwigs Gegnern in Deutschland, Holland und England erhobene Vorwurf wirkte lange nach und prägte noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts viele Werke über den Sonnenkönig, die außerhalb Frankreichs erschienen. 

In enger Anlehnung an die Arbeiten angelsächsischer Historiker über Patronage und Klientelwesen im frühneuzeitlichen Frankreich befasst sich Petitfils eingehend mit der Frage, wie der König seine Herrschaft ausübte und welche qualitativen Veränderungen das Regierungssystem in den fast 80 Jahren durchlief, die Ludwigs Leben umspannt. Petitfils entwickelt ein Drei-Phasen-Modell. Zwischen 1630 und 1661 leiteten zwei allmächtige Prinzipalminister, die Kardinäle Richelieu und Mazarin, im Auftrag des Königs die Regierungsgeschäfte. Ludwig XIII. war unsicher und entscheidungsschwach, und sein Sohn, Ludwig XIV., war erst fünf Jahre alt, als er 1643 den Thron bestieg. Die Kardinäle stützten sich im politischen Alltagsgeschäft auf ein weitverzweigtes Netzwerk von loyalen Gefolgsleuten (Klienten), die in Paris und in den Provinzen wichtige Posten innehatten. Die zweite Phase währte von 1661 bis 1691. Nach Mazarins Tod übernahm der junge König persönlich die Leitung der Regierung. Einen Prinzipalminister gab es fortan nicht mehr. Ludwig arbeitete mit einem kleinen Team von Ratgebern zusammen, darunter Colbert und Louvois. Auch diese Minister stellten der Krone ihr Netz loyaler Gefolgsleute zur Verfügung. Ein moderner Beamtenapparat existierte nicht. Die dritte Phase begann 1691. Mit Louvois’ Tod endete die Zeit der großen Minister. Die Treue der Amtsträger galt nunmehr dem König persönlich. Es herrschte inzwischen ein solider Konsens zwischen Krone und sozialen Eliten. Innenpolitische Krisen wie die Fronde (1648-1653) gehörten der Vergangenheit an. Der Adel hatte das anarchische Rebellentum früherer Zeiten lange hinter sich gelassen. Ein Mentalitätswandel hatte sich vollzogen: Die Adligen strebten nicht mehr danach, den König zu kontrollieren und zu einer Teilung seiner Macht zu nötigen. Pflichtbewusster Dienst für den Monarchen war nun gleichbedeutend mit loyalem Dienst am Vaterland. Das Bündnis zwischen Krone und sozialen Eliten (Schwert- und Amtsadel) bestand bis zur Revolution. Als absoluter Monarch mit alleiniger Entscheidungs- und Gesetzgebungskompetenz erfüllte Ludwig XIV. drei Funktionen, wie Petitfils ausführt: In Abwesenheit eines Repräsentativorgans einte er das französische Volk (fédérateur). Durch eine geschickte Politik des "Teile und herrsche" verhinderte er Bündnisse verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gegen die Krone (diviseur). Und zu guter letzt sorgte er durch Zähmung des Adels dafür, dass keine rivalisierenden Machtzentren mehr entstanden und die Krone ein unangefochtenes Gewaltmonopol erlangte (nivelleur).

Viel kritischer als Bluche setzt sich Petitfils mit der Außenpolitik und den Kriegen Ludwigs XIV. auseinander. Zwar erkennt er an, dass die Optimierung des Grenzverlaufs im Nordosten und Osten ein legitimes Ziel war. Aber er verweist zugleich auf die negativen Langzeitfolgen, die Ludwigs auftrumpfende, offensive Außenpolitik hatte. Der Devolutionskrieg (1667/68), vor allem aber der Holländische Krieg (1672-1678) und die Politik der Reunionen in den frühen 1680er Jahren schadeten dem Ansehen des Königs nachhaltig. Ludwigs Gegner in Deutschland, Holland und England hatten ein Leichtes, den König als Räuber, Erpresser und Gewalttäter hinzustellen. Es entstand eine zählebige "Schwarze Legende", die bis in unsere Tage fortwirkte. Den Neunjährigen Krieg (1688-1697) und den Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1713/14) hat Ludwig nicht gewollt, durch Fehlkalkulationen und Fehlentscheidungen aber ausgelöst. Aufgrund eigenen Verschuldens sah er sich in beiden Kriegen mit einer breiten Koalition europäischer Mächte konfrontiert. Im Spanischen Erbfolgekrieg geriet Frankreich hart an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Zumindest im protestantischen Teil Europas erlitt Ludwig XIV. einen zusätzlichen Ansehensverlust durch die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685. Ähnlich wie François Bluche unterstreicht Petitfils, dass die Zwangsbekehrung Hunderttausender Hugenotten kein wirklicher Gewinn für die Katholische Kirche war. Das 17. Jahrhundert hielt wenig von religiöser Toleranz. Seit Beginn der persönlichen Herrschaft 1661 sah sich Ludwig XIV. beharrlichem Druck seitens der Katholischen Kirche ausgesetzt, die konfessionelle Spaltung endlich zu überwinden, notfalls durch Zwang. Im Schlusskapitel zieht Petitfils Bilanz: Zu den positiven Errungenschaften, die unter Ludwig XIV. erzielt wurden, zählt er die innenpolitische Befriedung und die beispiellose Blüte der Kultur, aller Künste und Wissenschaften. Kritisch merkt Petitfils an, dass der König seinen Nachfolgern ein politisches System hinterließ, das im 18. Jahrhundert unzeitgemäß wurde. Das System war extrem "kopflastig"; alle Macht konzentrierte sich an der Staatsspitze; ein Dialog zwischen Krone und Gesellschaft war schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Stillstand, Verkrustung, Reformunfähigkeit – diese Probleme plagten Frankreichs politisches Leben in den Jahrzehnten zwischen Ludwigs Tod und der Revolution. Die Gesellschaft entwickelte sich stetig weiter, der Staat hingegen nicht.

Die verschiedenen Ausgaben der Biographie sind gleichermaßen bescheiden ausgestattet. Das Buch verfügt über eine thematisch gegliederte Bibliographie und ein Personenregister. Die einzige Stammtafel veranschaulicht die genealogischen Hintergründe des Spanischen Erbfolgekrieges. Auf Abbildungen und Landkarten wurde komplett verzichtet.

FAZIT

Es ist nicht leicht, ein abschließendes Urteil zu fällen. Verschiedene Leser befassen sich aus unterschiedlichen Gründen mit Ludwig XIV., und sie stellen unterschiedliche Ansprüche. Für eine ernsthafte, vertiefte Beschäftigung mit Ludwig XIV., etwa im Master-Studium oder im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit, sind die Biographien von John Wolf und Jean-Christian Petitfils zweifellos am besten geeignet. Gegen das Buch von François Bluche spricht allein schon der einschüchternde Umfang. Thierry Sarmant und Philip Mansel gehen in ihren Büchern nicht über das hinaus, was man in älteren Werken lesen kann. Pflichtlektüre sind ihre Bücher daher nicht. Mit 458 Seiten Text passt die Biographie von Mansel allerdings besser in unsere Zeit als die deutlich umfangreicheren Bücher von Bluche und Petitfils. Aber Mansel ist ein Autor aus dem 20. Jahrhundert, der eher für Leser seiner Generation schreibt als für die Generation Internet. Die Lesegewohnheiten des Publikums sind heute anders als vor 30 oder 50 Jahren. Leben und Herrschaft Ludwigs XIV. sind ein anspruchsvoller, herausfordernder Gegenstand, für Autoren ebenso wie für Leser. Historisch interessierte Laien besitzen heute nicht mehr das Vorwissen und die historische Allgemeinbildung, über die frühere Generationen verfügten. Das müssen Historiker, die heute ein Buch über Ludwig XIV. für einen breiten Leserkreis schreiben, in Rechnung stellen. Deshalb sei hier am Ende die Frage aufgeworfen: Wie sollte eine seriöse, wissenschaftlich fundierte, gut lesbare Biographie Ludwigs XIV. aussehen, die ins 21. Jahrhundert passt und geeignet ist, jüngere Leser für die Beschäftigung mit dem Sonnenkönig zu gewinnen?

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