Cover des Buches Drei Tage und ein Leben (ISBN: 9783608981063)
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Rezension zu Drei Tage und ein Leben von Pierre Lemaitre

Aufarbeitung einer Schuld

von Doryzz vor 7 Jahren

Rezension

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Doryzzvor 7 Jahren
Der zwölfjährige Antoine lebt alleine mit seiner Mutter ein ruhiges Leben in einer kleinen Ortschaft in Frankreich. Beim Spielen im Wald verletzt Antoine unbeabsichtigt den kleinen Rémi tödlich. Er versucht sein Bestes, um das Verbrechen zu vertuschen und bringt die Leiche an einen Ort im Wald, wo er früher mit anderen Kindern gespielt hat. Ein Jahrhundertsturm, der kurz danach die Gegend durchquert, vernichtet alle verdächtigen Spuren, die auf Antoine hinweisen können. Die Leiche des Kleinen wird nicht gefunden und so weiß die Polizei nicht, von welcher Art von Verbrechen sie ausgehen muss. Jahre später studiert Antoine und lebt noch immer bei seiner Mutter. Die Nachricht, dass die Gegend, in der er damals die Leiche des kleinen Rémi versteckt hat, gerodet und bebaut werden soll, versetzt ihn in Aufregung. Wird seine Tat nun doch noch aufgedeckt?

Es ist ein ganz normales Städchen mit ganz normalen Menschen, die Lemaitre feinfühlig schildert. Erst als das Unglück geschieht, lernt man die Dorfgemeinschaft richtig kennen. Zunächst helfen noch alle zusammen, um den vermissten Jungen zu finden, doch schließlich machen Schuldzuweisungen die Runde, ebenso wie Vermutungen, die hinter vorgehaltener Hand geäußert werden. Antoine ist ein stiller, in sich gekehrter Junge, der die Tat einfach ausblendet. Doch eigentlich ist er zu jung, um mit dieser schweren Belastung alleine fertig zu werden. Seine Mutter ist ebenso zurückhaltend. Alles, was sie belasten könnte, wird einfach ausgeblendet. Auf diese Weise versuchen beide zurechtzukommen. Zunächst funktioniert das auch, aber können sie ihr ganzes Leben mit der Gewissheit dieser Schuld so weiterleben?

Wäre es nicht eindeutig, dass sich die wesentlichen Ereignisse Ende 1999 abspielen, würde ich den Handlungszeitraum angesichts der Beschreibung des Dorfes und seiner Bewohner in den 1950er oder 1960er Jahren vermuten. Von einer modernen Gesellschaft, die schon weiter ist als nur auf der Schwelle des Kommunikationszeitalters, ist hier wenig zu merken. Ähnlich zurückhaltend ist auch Lemaitres Erzählung, besonders in den ersten beiden Teilen. Das macht es schwierig, richtig in die Geschichte einzutauchen. Erst im letzten Abschnitt wird es lebhafter, nicht zuletzt deshalb, weil die Protagonisten mehr agieren, als die Ereignisse nur stumm an sich vorüberziehen zu lassen.

Der Ausgangspunkt der Handlung ist der Tod des kleinen Jungen, aber im Mittelpunkt stehen die Auswirkungen, die dieses Unglück hat, und zwar nicht nur auf den Täter und seine Mutter, sondern auch auf Familie des Toten und das weitere Umfeld. Lemaitre beschreibt einfühlsam und eindringlich, stellt aber gleichzeitig die Charaktere so einseitig dar, dass es nicht leicht ist, Sympathie für sie zu entwickeln und damit auch Toleranz aufzubringen. Bestenfalls regt sich Mitleid für den kindlichen Antoine. Es ist verständlich, dass er am liebsten so tut, als wäre nie etwas geschehen. Als junger Erwachsener muss er sich den unauslöschbaren Erinnerungen stellen und tut das in einer ganz eigenen und für mich unverständlichen Art. Das mag daran liegen, dass man einfach zu wenig über ihn und auch seine Mutter erfährt, um ihr Verhalten zu deuten.

Als Gesellschaftsstudie und thematisch ist das Buch spannend. Das Verhalten der Protagonisten war in den meisten Fällen nachvollziehbar, aber letztlich bleiben für meinen Geschmack zu viele Fragen offen. Auch stilistisch hatte ich mehr erhofft. Der Klappentext wartet mit dem Hinweis auf, dass Lemaitre für ein früheres Buch mit dem Goncourt-Preis ausgezeichnet wurde, wodurch man gewisse Erwartungen hegt. Leider wurden sie nicht erfüllt.
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