Cover des Buches Drei Tage und ein Leben (ISBN: 9783608981063)
M
Rezension zu Drei Tage und ein Leben von Pierre Lemaitre

Psychologische Studie

von M.Lehmann-Pape vor 6 Jahren

Rezension

M
M.Lehmann-Papevor 6 Jahren
Psychologische Studie

„In Antoines Kopf nehmen allmählich die Konsequenzen Gestalt an“.

Da ist Antoine gerade mal 12 Jahre alt. Aktuell frustriert, da alle seine Freunde, seine „Clique“ jeden Nachmittag bei einem der Jungs vor der Playstation sitzen und nur er so eine komische Mutter hat, die ihn nicht lässt.

Aktuell zutiefst schockiert über das Geschehen mit einem ihm vertrauten Hund (das Lemaitre und solch unerschütterlich knapper und ruhiger Weise schildert, dass der Leser gar nicht anders kann, als sich zu grauen).

Und Aktuell dabei, eine Hütte im Wald, in einem Baum zu bauen. Aus Trotz gegen die Welt, wohl auch aus Langeweile heraus.

Und dann geht alles daneben. Nicht nur die Hütte, die er eigenhändig wieder abreißen wird. Antoine wird zum Mörder. Und auch das, was Opfer und Ausführung angeht, lässt den Leser keineswegs unberührt.

Ein nicht wieder zu korrigierender Schatten in seinem Kopf. Ein innerer Taumel, der den kleinen Antoine, aber auch den erwachsen werdenden Mann (das Buch ist eine, durch die Tat, besondere Form von Entwicklungsroman) immer wieder zwischen Angst und Verzweiflung, Mut und Trotz schwanken lässt. Denn zugeben wird und will er das nicht, aber ist es nicht so, dass alle schon davon wissen?

Behutsam und dennoch überaus präzise legt Lemaitre in der gesamten Breite des Romans die innere Erlebniswelt des Kindes, Jungen, des Mannes Antoine dem Leser vor Augen und baut so eine emotionale Dichte auf, die alle Verästelungen der inneren Erlebniswelt, der Tat und der folgenden Entwicklungen abschreitet.

Allerdings verlässt Lemaitre seine ruhige Erzählform mit seiner differenzierten Sprache selten, an manchen Stellen erzeugt dies jedoch dann auch Längen und eine Neigung, manche Seiten zu überblättern. Was wiederum nicht unbedingt ratsam ist, denn jeden Moment könnte ja etwas passieren. Eine Leiche entdeckt werden, Unachtsamkeiten oder unbedachte Äußerungen eine Kettenreaktion in Gang setzen.

Im roten Faden der äußeren Geschichte des Werkes ist damit gut Lemaitres „eigentliche“ Passion, der Kriminalroman, gut zu erkennen, während in der inneren Entfaltung seine sprachreiche und bildreiche Sprache den Leser teils unmittelbar mit der Innenwelt eines Menschen vertraut macht, dem ein solches „Unglück“ (und letztlich war es das), widerfahren ist.

„Er hat den Sack mit dem Hund angesehen“.

Eine bessere Ausrede fällt Antoine auf Nachfragen des Polizisten zunächst nicht ein. Und doch liegt in dieser spontanen Äußerung eine Schlüsselszene des Buches vor. Denn eigentlich hat nicht der tote, für die Öffentlichkeit als Verschwunden geltenden Remí diesen Müllsack vor Augen gehabt, Antoine aber sehr wohl. Tief in seinem Inneren.

Eine interessante, psychologische Studie, sprachlich kompetent und wunderbar verfasst, die trotz einiger Längen und einer teils zu ruhigen Erzählweise den Leser in den Bann schlägt.
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks