Mit seinem Buch „Karl IV. – Der Europäische Kaiser“ hat der bedeutende französische Mittelalter-Historiker Pierre Monnet, (gleichfalls Übersetzer der Autobiographie Karls IV, der „Vita Caroli Quarti“ ins Französische), ein wissenschaftsgeschichtliches Buch über eine eher dunkle mittelalterliche Epoche vorgelegt, das mich nachdrücklich beeindrucken konnte, war mir die Zeit doch bisher vor allem durch Pest, Heuschreckenschwärme oder lange Kriege ein Begriff.
Wer aber war denn Karl IV.? Wozu sollte man sich überhaupt noch mit ihm beschäftigen?
Bezeichnenderweise ist Karl IV. an deutschen Schulen nur noch durch die „Goldene Bulle“ berühmt-berüchtigt, den Namen verbindet man bestenfalls mit dem anderen Karl, dem „Großen“ - ganz im Gegensatz zu Tschechien übrigens, wo er bis heute nicht nur wegen seiner vielen Denkmale in und um Prag lebendig ist.
Von seinen Zeitgenossen und vielen Historikern der folgenden Jahrhunderte wurde er durchaus kritisch gesehen, gar bespöttelt, war er doch eher ein grüblerischer, frömmelnder Mensch, alles andere als die im MA so beliebten Schlachtenkönige und Turnierritter - wie noch sein Vater - und als „Pfaffenkönig“, also papsthörig, als geizig und allzu oft in Geldnöten verschrien!
Aus verschiedenen aktuelleren oder auch nationalen Blickwinkeln betrachtet, kann man heute aber über diesen schöngeistigen, diplomatischen und vorausschauenden Friedensherrscher nur staunen - so war er nicht nur ein König, der, wie sonst keiner, fünf Sprachen in Wort und Schrift(!) beherrschte, der als einziger eine Autobiografie, einen Maßstab für zukünftige Herrscher, hinterließ, „Vater“ der Tschechen genannt wurde, die erste Uni, die „Goldene Stadt“ erbaute und „goldene Handelsrouten“ schuf, und gleichzeitig ein weitgestrecktes und äußerst komplexes „Kaiserreich“ in einer Art verwaltete und vermehrte („Mehrer des Reiches“, ja, stellenweise ist klar, mit ihm hätte das „Spiel um Throne“ ganz anders ausgesehen), die bis ins 19. Jahrhundert wirkte und Deutschland entscheidend prägte, z.B. hinsichtlich des heutigen Föderalismus oder auch eines veränderten Europabegriffs.
Der Autor vermag am Beispiel Karls gut zu zeigen, dass unsere heutigen nationalstaatlichen Vorstellungen und Ideen mit früheren Zeiten unvereinbar sind. (Karl IV. lässt sich keiner Nation zuordnen: er war deutscher König wie König von Böhmen, König von Italien, König von Burgund, Kaiser des „Heilig-Römischen Reiches“, Vorsteher des Hauses Luxemburg usw., sein Handeln war immer im Blick auf viele verschiedene Völker und Kulturen ausgerichtet.)
Monnet schreibt hier entsprechend auch mehr als nur eine Biografie, er vermeidet deren Schwäche einer möglicherweise zu großen Nähe zu einem einzelnen herausgestellten Protagonisten der Geschichte, indem er uns, trotz deutlich erkennbarer Sympathien für Karl, eine hochinteressante multiperspektivistische Sicht auf dieses Spätmittelalter gibt. (Das Buch hat drei Teile, der erste umfasst die Lebensgeschichte.)
Er schafft hohe Aktualität, indem er aufzeigt, wie wichtig genau diese pluralistische Sichtweise in historischen Zeiten für uns ist.
In Zeiten, in denen populistische Strömungen allzu gerne Rückbesinnung und bewusste Instrumentalisierung und Vereinnahmung nationaler Geschichtserzählung benutzen, um zu entzweien, ist eine immer kritische, vor allem aber vielseitige und multinationale Betrachtungsweise der Geschichtsschreibung zwingend und wird hier im dritten Teil des Buches „Überdauern“, in der Analyse der national unterschiedlichen Betrachtungen dieses Herrschers und der Beurteilung seiner Wirkung durch die Jahrhunderte, vorbildhaft umgesetzt.
Die Inhalte des Buches werden abgerundet durch eine äußerst gelungene Gliederung, eine Chronologie, Anmerkungen sowie weiterführende Literatur- und Quellenangaben und auch einigen Schwarzweiß-Abbildungen.
Fazit: Das vorliegende Werk des Mediävisten Pierre Monet bringt uns nicht nur die Person, sondern auch die Epoche und die Wirkung dieses wichtigen und wohl einzigartigen mittelalterlichen Herrschers nahe, und erläutert überzeugend die Notwendigkeit multiperspektivistischer Geschichtsschreibung.
Durch die nichtchronologische Erzählweise ergeben sich einige Wiederholungen im Text, und zu den vielen Beschreibungen von diversen Gemälden, Skulpturen u.a. Denkmälern wären mir weitere oder auch farbige Abbildungen lieber gewesen. Außerdem äußert sich der Autor nur kurz zur Frage der Judenverfolgung, was ich mir ebenfalls anders gewünscht hätte. Das ist allerdings die einzige Kritik, die ich an diesem Buch habe.
Es hat mich ansonsten sehr angeregt mich noch weiter mit der Thematik zu beschäftigen und hat wahrscheinlich auch meine zukünftige Lesart geschichtlicher Sachbücher nachhaltig beeinflusst. Eine klare Leseempfehlung für geschichtlich-politisch Interessierte.