Cover des Buches Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen. Storys (ISBN: 9783944818450)
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Rezension zu Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen. Storys von Pippa Goldschmidt

Astronomische Einsamkeiten

von complitse vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Wer Kurzgeschichten mag und sich für Astronomie und Astrophysik interessiert, wird Pippa Goldschmidts Storys lieben.

Rezension

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complitsevor 7 Jahren
Pippa Goldschmidts Erzählband Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen zieht uns unwiderstehlich hinein in die privaten schwarzen Löcher der Seelen von Astronominnen, Physikern und Mathematikerinnen. Ihre wissenschaftliche Tätigkeit fungiert als das Bühnenbild, in dem sich das Schauspiel des persönlichen Desasters entwickelt.

Pippa Goldschmidt ist selbst promovierte Astrophysikerin und Astronomin, sie arbeitete am Imperial College und für die Weltraumbehörde, da nimmt es nicht Wunder, dass ihr Schreiben größtenteils von Wissenschaft inspiriert ist, inhaltlich wie stilistisch. Ihr Stil ist nicht der üblicher akademischer Papers – denn die meisten Wissenschaftler sind eben nicht, wie Pippa Goldschmidt, gleichzeitig Absolventen des renommierten Creative Writing Kurses der University of Glasgow – aber er ist klar und präzise; es gibt kein überflüssiges Wort. Dies bei der Übertragung ins Deutsche zu erhalten, ist Übersetzerin Zoë Beck hervorragend gelungen.

Inhaltlich befassen sich fast alle Geschichten mit dem Berufs- und Privatleben von Naturwissenschaftlern, teils mit realen wie Robert Oppenheimer, den wir in Gleichung für einen Apfel durch seine unglückliche Zeit als Doktorant in Cambridge begleiten, oder Alan Turing, dessen Entwicklung des Turing-Test zur Überprüfung, ob Maschinen denken können, in Das Nachahmungsspiel mit der tragischen Geschichte um seinen Suizid verknüpft wird.

Das Dilemma manches Wissenschaftlers, wie er sich verhalten solle, wenn seine Forschung auf einmal zu unlauteren Zwecken eingesetzt wird, verhandelt Goldschmidt aber nicht am „Vater der Atombombe“ Robert Oppenheimer, sondern an einem namenlosen Team von Astronomen (in Sicherheitsüberprüfungen), was deutlich macht, wie viel alltäglicher dieses Dilemma ist.

Andere Erzählungen sind nicht nur fiktiv, sondern gehen ins Fantastische, etwa die wunderbare Geschichte um eine romantische Beziehung zu einem sprachgesteuerten Lift, oder die titelgebende Endzeit-Story Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen, in der unaufhaltsam Satelliten auf die Erde krachen. Trotz der extremen Situation bleibt der Erzählstil sachlich, selbst das Groteske wird lakonisch mitgeteilt – eine reizvolle Divergenz mit komischer Wirkung:

Einige der Trümmer waren groß genug, um es durch die Atmosphäre zu schaffen, und landeten auf unserer Terrasse, und wir fragten uns, warum es eigentlich so wichtig gewesen war, eine Kaffeetasse und einen Druckbleistift in den Weltraum zu schießen, und ob die Auswahl an Gedichtanthologien, die die Astronauten getroffen hatten, nicht doch etwas gewagt war. [S. 19/161]¹

Pippa Goldschmidt webt in diese wissenschaftlich basierten Geschichten häufig Genderthemen ein, zeigt die nach wie vor problematische Situation von Wissenschaftlerinnen (zum Beispiel in BBC Fernsehstudios, 2013 oder in Kampf um die Unsterblichkeit) und wirkt dem Cliché der asexuellen Naturwissenschaftlerin entgegen (so in Einführung in die Relativitätstheorie oder in Die Suche nach dunkler Materie). Sie selbst gendert dabei nicht, so dass in manchen Geschichten das Geschlecht der Erzählerin/des Erzählers nicht zu erkennen ist, weil es irrelevant ist. Mir ist das erst aufgefallen, als ich über diese Geschichten schreiben wollte, wodurch man (auf deutsch) meist gezwungen ist, sich für einen Artikel und eine Endung zu entscheiden.

Ihre Geschichten sind unterhaltsam, lehrreich und philosophisch. Sie werfen einen Blick darauf, wie unterschiedlich naturwissenschaftlich geprägte Gehirne mit Gefühlen umgehen können: mit Neid, den Robert Oppenheimer auf seinen Tutor Patrick Blackett verspürte; mit Liebe, Sehnsucht, Einsamkeit, oder auch mit der Scham der Shoah-Überlebenden und ihrer Nachgeborenen wie in Keine Zahlen:

Als ich älter wurde und mit komplizierter Mathematik weiter machte, verstand ich, dass es zwei Kreise für zwei Zahlenmengen gab, und diese Zahlen bildeten der Reihe nach die Menschen ab, die die Lager überlebt hatten, und die Menschen, die umgekommen waren. Keine Schnittmenge bei den Kreisen, die Menschen waren entweder lebendig oder tot. Und man konnte unmöglich wissen, welche Zahl im Einzelnen in welcher Zahlenmenge war. Nichts was durch bloße Betrachtung eine Zahl von der anderen unterschied. Ich wusste nun, dass viele Zahlen eine versteckte Geschichte hatten, und ich fühlte mich nicht mehr wohl damit, Rechenaufgaben mit ihnen zu machen. Ganz so, als würde man auf Asche trampeln. Es war eine Erleichterung, von irrationalen Zahlen zu erfahren, wie Pi oder die Quadratwurzel aus zwei. [S. 25/161]

Gerade diese Geschichte hat ein starkes symbolisches Ende, dass ich hier natürlich nicht vorwegnehmen möchte.

Pippa Goldschmidt gehört zu meinen persönlichen Entdeckungen des Jahres 2016, auch wenn der Erzählband Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen bereits 2014 bei CulturBooks erschienen ist.

Diese Rezension war zuerst zu lesen auf meinem Literaturblog comparaison d'être


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