Rezension zu "Abend ist der ganze Tag" von Preeta Samarasan
Von Sehnsucht und Schuld
Die indische Familie Rajasekharan lebt in der zweiten Generation im „Big House“ in Ipoh, Malaysia. Die 18jährige Tochter Uma ist zu Beginn des Romans gerade in ein Flugzeug nach New York gestiegen, um dort zu studieren. Die ebenso alte Chellam hat für die Familie gearbeitet und für die altersschwache Großmutter gesorgt, sie aber wird von der Familie aus dem Haus geworfen, weil sie sich schuldig gemacht hat.
„Abend ist der ganze Tag“, so der Titel des Romans von Preeta Samarasan, treibt den Leser gleich mitten in diese Geschichte hinein, wirft ihm einzelne Brocken vor, die er zunächst nicht zuordnen kann. Was hat Chellam getan, dass sie so ungnädig verstoßen wird? Wieso ist Asha, die 6-jährige, so einsam in ihrer Sehnsucht nach der großen Schwester, die ihrerseits kaum mehr ein Lächeln für sie übrig hat? Warum ist Amma, die Mutter dieser beiden Töchter und eines 11-jährigen Sohnes, so verbittert?
Die Autorin nimmt sich Zeit, um die Geschichte dieser Familie vor dem Leser zu entfalten. Sie springt dabei chronologisch vor und zurück und beleuchtet ausführlich die Gedanken und Gefühle ihrer Protagonisten, allen voran der kleinen Asha, die so viel versteht für ihre erst 6 Jahre, der aber das Entscheidende dann doch entgeht. Samasaran erzählt dabei so metaphernreich und in so starken Bildern, dass man als Leser das Gefühl hat, mit der Familie am Tisch zu sitzen, zu riechen, zu schmecken und zu fühlen. Der Roman entwickelt mehr und mehr einen Sog, dem man sich nicht mehr entziehen kann, wenn immer deutlicher wird, was hier wem zugestoßen ist, wie Sehnsüchte und Träume enttäuscht wurden, wer Schuld auf sich geladen hat. „Abend ist der ganze Tag“ fördert alles nach und nach zu Tage, erschüttert und bedrückt, bis alle Karten auf dem Tisch liegen.