Rezension zu "Virginia Woolf" von Quentin Bell
Über Virginia Woolf gibt es nicht viele Biographien, aber Quentin Bell gehört zweifelsohne zu den bei-den Standardwerken, die genannt werden müssen (das andere Standardwerk ist m.E. Hermione Lee’s Biographie über Virginia Woolf).
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Quentin Bell (* 1910) ist der Sohn von Vanessa Bell, geborene Stephen, Virginias Schwester. Er hat Virginia persönlich gekannt und erlebt und schreibt deshalb als unmittelbarer Zeitzeuge, nicht als ein solcher Biographienschreiber, der über sein Objekt erst recherchieren und interviewen musste. Und Quentin ist ein überaus humorvoller Mensch: bereits die eingangs beschriebene Familiengeschichte der Stephen verpackt er in so viel bissigen Humor, dass es sehr viel Spaß macht, sein Buch zu lesen. Darüber hinaus verfügt er über wirkliches Schreibtalent.
Nebenbei ist die Biographie über Virginia Woolf ein Zeitdokument der Jahre 1920-1940 englischer Literatur- und Gesellschaftsgeschichte. So schreibt Bell auch über den berühmten Bloomsbury Kreis oder Oxford-Jahre der Stephen-Brüder; beides Stationen im Leben von Virginia Woolf, die auf ihre Persönlichkeit und ihr Schreiben einen massiven Einfluss hatten, allerdings auch auf die englische Kunst- und Literaturszene.
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Ein wenig stört, dass Quentin Bell das scheinbare Idyll einer intakten Familie beschreibt. Nach Virginia Woolf – Die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs auf ihr Leben und Werk, geschrieben von der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Louise DeSalvo, kann man diesem heraufbeschworenen Idyll nicht mehr wirklich glauben. Außerdem widerspricht der harmonische Eindruck dem allgemein bekannten viktorianischen Familienverständnis, dass von patriarchalen Verhältnissen geprägt war und Frauen im Wesentlichen ein Leben lang eine untergeordnete Rolle zuordnete. Auf den von den Duckworth-Brüder ausgeübten sexuellen Missbrauch an den beiden Stephen-Schwestern geht Quentin Bell nur sehr knapp ein. Er bleibt vage, will sich nicht festlegen. Auch hier wird lieber eine idyllische Welt beschrieben und sich hinter Nebulösem verschanzt, anstatt eine klare – wenn auch streitige – Aussage zu treffen. Zur kritischen Auseinandersetzung ist daher DeSalvo’s Buch zu empfehlen und gibt auch dem literarischen Werk Virginia Woolf eine mitunter andere Ausrichtung.