Mit den Worten, „die wahre Welt ist die Musik. Musik ist das Ungeheure“, beginnt Rüdiger Safranski sein Werk „Nietzsche - Biographie seines Denkens“ und führt dann über Nietzsches eigenen Akkorde am Klavier und Richard Wagener zur „Geburt der Tragödie“.
Die dionysisch aufgeladenen Verzückungen füllt Safranski geschickt mit Apollinischem aus Nietzsches Kindheit und Jugend. Wie ein Chemiker im Nietzsche-Laboratorium analysiert der Autor die neun autobiografischen Skizzen, die zwischen 1858 und 1868 entstanden sind. „Er imaginiert sich als künftigen Leser seiner selbst“, schreibt Safranski und ergänzt diese Aussage durch ein Zitat aus Nietzsches Jugend: „Es ist etwas gar zu Schönes sich späterhin seine ersten Lebensjahre vor die Seele zu führen und die Ausbildung der Seele daran zu erkennen.“
Einige Seiten später heißt es: „Nietzsche bewundert an Lord Byron diese Inszenierung des Lebens und seine Verwandlung ins Kunstwerk.“ 20 Jahre danach ist in der „Fröhlichen Wissenshaft“ zu lesen „Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein (3,538; FW).“
Nietzsche war also in erster Linie Lebenskünstler, sein Denken Lebenskunst.
Tief beeindruckt hat mich, dass der „Abenteurer und Weltumsegler der inneren Welt“ ohne „Ich“ denkt: „Tatsächlich aber ist es der Akt des Denkens, durch den überhaupt erst das Ich-Bewusstsein hervorgebracht wird. Für das Denken gilt: erst der Akt, dann der Akteur (5,31; JGB).“ Im zwölften Kapitel schreibt Safranski dann: „Mit wenigen Sätzen wird Descartes’ >Cogito ergo sum< von der Bühne gefegt.“
Im Oktober 1865 entdeckt Nietzsche in einem Antiquariat „Die Welt als Wille und Vorstellung“ von Arthur Schopenhauer. Zunächst fühlt er sich dem Philosophen durch die Musik verbunden. Beide sehen die Welt pessimistisch und in der Kunst die Möglichkeit einer Erlösung. „Auch für Schopenhauer ist, wie bekannt, die Kunst Erlösungsmacht; im wahren Kunstgenuss, schreibt er, sind wir‚ des schnöden Willensdrangs entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.‘ (Schopenhauer 1, 283)“
Wenn Nietzsche von sich sagt,“Ich bin eine Pflanze, nahe dem Gottesacker geboren“, spielt er damit auf seine Herkunft als Sohn eines Pastors an. Seine Diagnose, „Gott ist tot“, ist, wie Safranski bemerkt, im 19. Jahrhundert keine Neuigkeit mehr, zeigt aber, wie schwer es Nietzsche gefallen ist, sich Gottes zu entledigen . „Gott mag im öffentlichen Bewusstsein schon eine Weile lang tot sein, Nietzsche aber spürt seine Nachwirkung noch in der Mitleidsmoral.“
So sehr Nietzsche das Mitleid verurteilt, so sehr leidet er darunter. Schließlich wird es ihm zum Verhängnis. Am 3. Januar 1889 beobachtet der 44-Jährigre auf der Piazza Carlo Alberto in Turin, wie ein Droschkenkutscher auf sein Pferd einschlägt. „Weinend wirft Nietzsche sich dem Tier an den Hals, es zu schützen. Vom Mitleid überwältigt bricht er zusammen. Wenige Tage später holt Franz Overbeck den geistesverwirrten Freund ab. Noch zehn Jahre lebte Nietzsche dahin.“
Immer wieder will Nietzsche mit seiner Mutter und seiner Schwester brechen, aber sein Mitleid hindert ihn daran. Kurz vor seinem Zusammenbruch entwirft er einen Brief an Elisabeth:, sendet ihn aber nicht ab. „Du hast nicht den entferntesten Begriff davon, nächstverwandt mit eben dem Menschen und Schicksal zu sein, in dem sich die Fragen von Jahrtausenden entschieden haben (Mitte November).“
Die Geschichte zeigt, dass Nietzsche sich hier geirrt hat. Denn Elisabeth Förster-Nietzsche gründete nicht nur das Nietzsche-Archiv, sondern wusste auch, wie sie durch Fälschungen Nietzsche ins Licht der Öffentlichkeit rücken konnte. Davon schreibt Safranski jedoch nichts, sondern zeichnet ein anderes Bild von Nietzsches Wirkungsgeschichte.
Hier fallen viele Namen. Thomas Mann kann ich wohl nicht unterschlagen. Drei andere versetzten mich in Verzückung: Hermann Hesse, Michel Foucault, und Theodor W. Adorno. Bei Letzterem studierte Safranski übrigens 1965 Philosophie. Ersterer verteidigte nicht nur Nietzsche durch seine Schrift „Zarathustras Wiederkehr“, sondern nimmt auch im „Steppenwolf“ Nietzsches Gedanken vom Apollinisch-dionysischen auf und spinnt ihn im Geiste seines Vorbilds weiter, indem er seine Hauptfigur Harry Haller am Ende die Vielzahl seiner „Seelen“ entdecken lässt.
Safranski schreibt: „Der Wille ist nicht, wie Schopenhauer will, eine dynamische Einheit, sondern ein Gewimmel von unterschiedlichen Strebungen, ein Kampfplatz von Energien, die um die Macht kämpfen.“
Auf dem Kampfplatz der Energien ist Nietzsches Übermensch nicht deutlich auszumachen. Man erkennt noch das dienende Kamel: „Außerdem ist ihm eine gewisse Demutsstarre geblieben … Diese Demutsstarre steckt Nietzsche noch in den Knochen, und deshalb muss er sich zur Lebensbejahung selbst überreden, bisweilen mit hysterischer Entschlossenheit. Es ist zuviel Absicht im Spiel und zuwenig Spiel in der Absicht.“
Der Löwe auf dem Schlachtfeld erscheint bei Nietzsche vor allem mit und nach Zarathustra. Jetzt präsentiert sich der Denker nicht nur als Antidemokrat und Kriegsbefürworter, sondern auch als Vernichter: Jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entarteten und Parasitischen, wird jenes Z u v i e l v o n L e b e n auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muss (6, 313; EH).“
Das spielende Kind kommt bei ihm zu kurz. Wie Harry Haller gelingt ihm das Lachen kaum und den Tänzerinnen bleibt Zarathustra fern.
Das kann auch am Geschlecht der Tanzenden liegen. Denn Nietzsche sah in den Frauen einen „Hemmschuh“. So sind es auch nicht Mathilde Trampedach, Cosima Wagner oder Lou Salomé, die in ihm den Wunsch nach einer Abkühlung wachrufen, sondern der Bruch mit Richard Wagner. Jetzt bezeichnet er gar die Musik als „leeres Geräusch, das erst durch Kindheitserinnerungen, Bildassoziationen, Körpergefühle allmählich mit Sinn aufgeladen wird. Sie ist keine u n m i t t e l b a r e Sprache des Gefühls (2,175).“
Nietzsche wendet sich nun stärker der Wissenschaft zu, befürchtet aber, mit ihr in einer Wüste zu enden. Seine Lösung ist ein Zweikammersystem: „Eine höhere Kultur muss den Menschen gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nichtwissenschaft zu empfinden … mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Überhitzung vorgebeugt werden (2, 209).“
Am 6. August 1881 in der Nähe des Surlej-Felsens erhitzt sich Nietzsche kräftig. Hier kommt ihn der Gedanke der ewigen Wiederkunft. Seine Begründung zieht er aber aus der Wissenschaft: „Die Kraftmenge des Universums als Materie oder Energie ist beschränkt, die Zeit aber ist unendlich. In dieser unendlichen Zeit sind deshalb alle möglichen Materie- und Energiekonstellationen, also alle möglichen Ereignisse des Lebendigen und des Leblosen, schon einmal geschehen, und sie werden sich unendlich wiederholen.“
Im Rahmen von dctp wies Safranski im Jahr 2000 auf den Rhythmus in Nietzsches Denken hin. Er spricht von einer Philosophie, die im Gehen entstanden sei. Nach Basel hatte Nietzsche keinen festen Wohnsitz mehr. Sils im Engadin aber war ihm ab 1881 ein beliebter Aufenthaltsort, weil das Klima die Symptome seiner Krankheiten linderte.
In besagter Fernsehsendung äußert Safranski auch, dass Nietzsche zwar die Religionen, insbesondere das Christentum, verteufelte, aber die Fähigkeit zur Erfindung von Göttern nicht verlieren wollte. In seinem Buch schreibt er: „… der Siegeszug des Christentums ist der lebendige Beweis dafür, dass die Umwertung der Werte möglich ist. Aus dieser Perspektive spricht er voll Bewunderung von den religiösen Genies wie Paulus, Augustin oder Ignatius von Loyola; sie haben den gesamten Weltkreis mit ihren Obsessionen infiziert, sie haben die geschichtliche Bühne gedreht und eine Lebenswelt geschaffen, in denen Menschen geistig gewirkt und geatmet haben. Im Vergleich zu diesen religiösen Athleten ist der gewöhnliche Mensch im Zeitalter der entzauberten Moderne und des Nihilismus ein phantasieloses Arbeitstier, eine arme Kreatur: es scheint, dass sie gar keine Zeit für die Religion übrig haben, zumal es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäft oder ein neues Vergnügen handelt. (5, 76; JGB).“
Rüdiger Safranski ist es auf 400 Seiten in 15 Kapiteln, einem Nachwort, einer Chronik, einem Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis gelungen, dem Leser einen tiefen Einblick in das Denken und Leben Friedrich Nietzsches zu gewähren. Ich kann ihn dazu nur beglückwünschen.
Vera Seidl