R. J. Knecht

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Frankreich im 16. Jahrhundert

Im Kreis der englischsprachigen Historiker, die sich mit der Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert beschäftigen, nimmt der Brite Robert Knecht (geb. 1926) eine herausragende Stellung ein. Vierzig Jahre lang lehrte Knecht an der Universität von Birmingham. Die meisten seiner Bücher sind erstaunlicherweise erst nach seiner Emeritierung 1994 entstanden, etwa Biographien über Katharina von Medici (1998) und Heinrich III. (2014) sowie eine Studie über den französischen Königshof während der Renaissance (2008). Außerhalb Frankreichs gibt es wohl keinen zweiten Historiker, der Knechts Expertise in Bezug auf die Zeit der späten Valois-Könige überbieten kann. Niemand, der sich mit der französischen Geschichte im Zeitalter der Reformation und der Religionskriege befasst, kommt an Knechts Arbeiten vorbei. Das gilt in besonderem Maße für Knechts Buch "The Rise and Fall of Renaissance France", das 1996 als Teil der "Fontana History of France" erschien. Zum damaligen Zeitpunkt lagen bereits zwei Bände vor, einer über die Revolution und das napoleonische Zeitalter (Donald Sutherland), ein zweiter über das 19. Jahrhundert (Roger Magraw). Weitere Bände waren vom Verlag Fontana Press geplant, sind aber leider nie erschienen. Der Blackwell-Verlag brachte Knechts Buch 2001 in zweiter Auflage heraus. 

Knecht spannt einen Bogen vom Tod Ludwigs XI. 1483 bis zur Ermordung Heinrichs IV. 1610. Die Darstellung lässt sich mit einem farbenprächtigen, figurenreichen Wandteppich vergleichen. Das Buch ist konsequent erzählend angelegt. Heutige Leser mögen das altmodisch finden. Aber die ungeheure Dynamik und Dramatik der Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert kann man nur in narrativer Form und epischer Breite anschaulich wiedergeben. Wer sich vertiefend mit der Geschichte Frankreichs am Beginn der Frühen Neuzeit beschäftigen möchte, der muss sich zunächst fundiertes Grundlagenwissen aneignen. Dafür ist Knechts faktengesättigtes Buch hervorragend geeignet. In der angelsächsischen Welt steht das Werk nach wie vor konkurrenzlos da, obwohl es mittlerweile 25 Jahre alt ist. In Deutschland gibt es kein einziges Buch, das sich mit Knechts Opus magnum vergleichen ließe. Der für seine Dynastiegeschichten bekannte Kohlhammer-Verlag hat bis heute keinen deutschen Historiker gefunden, der ein Buch über das Haus Valois schreibt. Knechts Buch ist all jenen deutschen Lesern zu empfehlen, denen die französischsprachige Literatur zur Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert nicht zugänglich ist. In puncto Benutzerfreundlichkeit lässt das Buch keine Wünsche offen: Es enthält Landkarten, mehrere Stammtafeln, ein zehnseitiges Glossar sowie ein vierzigseitiges (!) Personen-, Sach- und Ortsregister. 

Eine Rezension von begrenztem Umfang ist kaum geeignet, das Buch angemessen zu würdigen. Der Text ist in 27 Kapitel gegliedert, die im Schnitt 20 Seiten umfassen. Knecht geht chronologisch vor. Die Ereignisgeschichte bildet das Rückgrat der Darstellung. Im ersten Kapitel erörtert Knecht die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Frankreich an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Als das 16. Jahrhundert anbrach, hatte sich das Land gut von den Verheerungen des Hundertjährigen Krieges erholt. Wichtige, regelmäßig wiederkehrende Leitmotive sind Aufbau und Arbeitsweise staatlicher Institutionen sowie das Finanz- und Steuerwesen, bekanntermaßen die Achillesferse jeder frühneuzeitlichen Monarchie. Ausführlich und mit souveräner Kennerschaft behandelt Knecht die großen Themen des 16. Jahrhunderts: Die Italienkriege und der Dauerkonflikt zwischen dem Haus Valois und den Habsburgern (1494-1559); Humanismus, Renaissance und Reformation; schließlich die Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten ab 1562, ein Tiefpunkt der französischen Geschichte. Knecht plädiert dafür, die Gesundung Frankreichs unter Heinrich IV. nicht zu überschätzen. Eine dauerhafte Stabilisierung der inneren Verhältnisse trat seiner Ansicht nach erst unter Ludwig XIV. ein. Mehrfach unterbricht Knecht die Erzählung, um Entwicklungen in den Bereichen Architektur, Kunst und Literatur zu skizzieren oder die Auswirkungen der Religionskriege auf das politische Denken zu analysieren. Auch Frankreichs Beteiligung an der europäischen Expansion nach Übersee ist ein Kapitel gewidmet. 

Knecht zieht in seinem Buch die Bilanz seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert. Die kommentierte, nach Kapiteln gegliederte Bibliographie (S. 580-608) ist ein beredtes Zeugnis seines wahrhaft enzyklopädischen Wissens. Nicht nur dieses Wissen an sich ist beeindruckend und rühmenswert, sondern auch die gut verständliche Form, in der Knecht es präsentiert. Seit 1945 hat die Geschichtswissenschaft viele ältere Forschungsmeinungen über das Zeitalter der Reformation und der Religionskriege korrigiert und überwunden. Es ist eine hervorhebenswerte Stärke des Buches, dass Knecht die Ergebnisse der neueren französisch- und englischsprachigen Forschung bündelt und einem breiten Leserkreis zugänglich macht. Ohne Übertreibung kann man sagen: Es ist ein großes Unglück, dass die "Fontana History of France" unvollendet geblieben ist, ein Torso. Knechts Buch steht isoliert da. Angekündigt waren Bände über das 17. Jahrhundert (Joseph Bergin), das 18. Jahrhundert (Olwen Hufton) und das 20. Jahrhundert (Douglas Johnson). Diese Bücher sind nie erschienen. Ob auch Bände über das Mittelalter geplant waren, ist unklar. Die sechsteilige "Short Oxford History of France", erschienen zwischen 2001 und 2003, ist kein Ersatz. Die Bände wurden von Autorenkollektiven verfasst und sind eher analytisch als erzählend angelegt. Für ein historisch interessiertes Laienpublikum sind sie nicht geeignet.

Ein Frankreich-Enthusiast wird nach der Lektüre von Robert Knechts Buch Wehmut empfinden. Das späte 20. Jahrhundert war das Goldene Zeitalter der anglophonen Frankreichforschung. Die Arbeiten britischer und amerikanischer Historiker zur Geschichte Frankreichs haben in Deutschland nie die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen gebührt. Ein Kenner der Materie weiß, wieviele wichtige Bücher unbeachtet und unübersetzt geblieben sind. Inzwischen ist die angelsächsische Frankreichforschung nicht mehr so produktiv wie vor 20 oder 30 Jahren. Vor allem bringt sie keine Gesamtdarstellungen zu einzelnen Epochen der französischen Geschichte mehr hervor. Für deutsche Leser sind ältere Werke wie Knechts Buch so wertvoll, weil auf dem deutschen Buchmarkt seit langem ein chronischer Mangel an GUTEN Büchern zur Geschichte Frankreichs herrscht (einzige Ausnahme: Napoleon-Literatur). Inhaltlich seriöse und zugleich gut lesbare Bücher aus der Feder deutscher Historiker und Sachbuchautoren haben heute ebenso Seltenheitswert wie Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen. Im Lehrangebot geschichtswissenschaftlicher Institute fristet die Geschichte Frankreichs ein Schattendasein. In naher Zukunft wird sie selbst für gebildete Laien so fremdartig und exotisch sein wie die Geschichte Chinas. Robert Knechts großartiges Buch kann schon jetzt als Klassiker gelten. Es wird in den kommenden Jahren noch an Wert gewinnen, denn je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ein anderer angelsächsischer Historiker eine Gesamtdarstellung zur Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert vorlegt, die Knechts Werk ersetzt.

Cover des Buches Catherine De' Medici (Profiles in Power) (ISBN: 9780582082427)
A

Rezension zu "Catherine De' Medici (Profiles in Power)" von R. J. Knecht

Andreas_Oberender
Jenseits der Schwarzen Legende. Katharina von Medici als Regentin und Politikerin

Katharina von Medici (1519-1589), Gemahlin Heinrichs II. von Frankreich und Mutter der drei letzten Valois-Könige (Franz II., Karl IX., Heinrich III.), gehört zu den bekanntesten Persönlichkeiten des 16. Jahrhunderts. Ihr Leben stand ganz im Zeichen von Renaissance und Glaubensspaltung. Ähnlich wie Philipp II. von Spanien wurde Katharina Opfer einer sogenannten Schwarzen Legende: Jahrhundertelang galt sie als herrschsüchtige, skrupellose und verschlagene Intrigantin, die ihre willensschwachen Söhne manipuliert und Frankreich ins Unglück gestürzt habe. Französische Historiker und Romanciers des 19. Jahrhunderts wie Jules Michelet und Alexandre Dumas gaben Katharina die Hauptschuld an der Eskalation des Konfessionskonfliktes zwischen Katholiken und Hugenotten und an der Bartholomäusnacht von 1572. Kein Autor, der ernst genommen werden will, könnte es heute noch wagen, Katharina derart zu verteufeln. Katharina muß eigentlich nicht mehr rehabilitiert werden. Die seriöse akademische Forschung hat das im 19. Jahrhundert vorherrschende Zerrbild schon vor langer Zeit in Frage gestellt und größtenteils widerlegt. Eine wichtige Zäsur war die Veröffentlichung von Katharinas umfangreichem Briefwechsel zwischen 1880 und 1909. Erst dieses zehnbändige Quellenwerk ermöglichte eine sachliche, vorurteilsfreie und wissenschaftlichen Standards genügende Auseinandersetzung mit Katharina. Am Anfang der modernen Katharina-Forschung stehen die Biographien der beiden französischen Historiker Jean-Hippolyte Mariéjol (1920) und Jean Héritier (1940, auch auf Deutsch). Alle späteren Werke, etwa die umfangreiche Biographie von Ivan Cloulas (1979), sind den wegweisenden Arbeiten von Mariéjol und Héritier verpflichtet. Populärwissenschaftliche Biographien wie die von Irene Mahoney (1976, auch auf Deutsch) und Jean Orieux (1986, auch auf Deutsch), sind aus Sicht des Fachhistorikers belanglos.

Das vorliegende Buch stammt aus der Feder des britischen Historikers Robert Knecht. Außerhalb Frankreichs gibt es wohl keinen zweiten Historiker, der sich mit der französischen Geschichte des 16. Jahrhunderts so gut auskennt wie Knecht. An seinen Büchern kommt niemand vorbei, der sich mit der Geschichte Frankreichs im Zeitalter von Renaissance, Reformation und Religionskriegen beschäftigen möchte. Knechts Buch über Katharina ist mit 275 Textseiten keine umfassende Biographie, sondern eine Überblicksdarstellung. Katharinas langes und ereignisreiches Leben würde auch eine doppelt so umfangreiche Darstellung rechtfertigen. Wie alle Bände der Reihe "Profiles in Power" ist das Buch für den universitären Lehrbetrieb gedacht, weniger für historisch interessierte Laien. Knecht setzt beim Leser einiges an Vorwissen voraus. Das Buch besitzt keine Abbildungen, ist aber ansonsten hervorragend ausgestattet. Es verfügt über Landkarten, Stammtafeln, eine kommentierte Bibliographie, eine detaillierte Chronologie und eine Liste aller Edikte, mit denen die französische Krone zwischen 1551 und 1588 den Status der Protestanten (Hugenotten) regelte. Knecht geht chronologisch vor. Im zehnten Kapitel unterbricht er die Erzählung, um Katharina als Bauherrin und Kunstmäzenin vorzustellen. Knecht zieht in beachtlichem Umfang Katharinas Briefe heran. Die Königin und Regentin kommt oft selbst zu Wort. In inhaltlicher Hinsicht bietet Knecht keine Überraschungen. Die Geschichte, die er erzählt, ist gut bekannt. Katharinas Stunde schlug 1559, nach dem frühen Tod Heinrichs II., ihres Gemahls. Fortan kämpfte die Königinmutter rastlos um die Verteidigung des Erbes ihrer Söhne, von denen keiner ohne ihren tatkräftigen Beistand auskam. Katharina besaß geringe Handlungs- und Gestaltungsspielräume, wie Knecht mehrfach betont. Das hatte nicht nur mit ihrem Geschlecht und ihrem Status als lediglich inoffizielle Beraterin ihrer Söhne zu tun (Regentin war Katharina nur für kurze Zeit, von 1560 bis 1563 und noch einmal für einige Monate 1574). Die chronischen Finanzprobleme der Krone, der immer rabiater werdende Konfessionskonflikt, die Rivalitäten prominenter Adelsfamilien – von all diesen Faktoren wurden Katharina und ihre Söhne im politischen Handeln eingeengt.

Knecht vermeidet simple Schwarz-Weiß-Malerei. Er würdigt Katharinas Bemühen um eine friedliche Beilegung des Konfessionskonflikts in den frühen 1560er Jahren, während der Minderjährigkeit Karls IX. In diesen Jahren war Katharinas Einfluss am größten. In Glaubensdingen war die Königinmutter bemerkenswert pragmatisch und nüchtern. Sie hatte kein Verständnis für die religiöse Leidenschaft von Katholiken und Protestanten; theologische Streitfragen ließen sie kalt. Das war vielleicht ein Handicap, wie Knecht zu bedenken gibt. Katharinas Zugeständnisse an die Hugenotten gingen den Katholiken zu weit, den Protestanten jedoch nicht weit genug. Ende der 1560er, Anfang der 1570er Jahre befürwortete Katharina vorübergehend eine harte Linie gegenüber den Hugenotten. Die schwierige Quellenlage ermöglicht keine zweifelsfreien Aussagen über Katharinas konkreten Anteil an den Ereignissen, die im August 1572 zur Bartholomäusnacht führten. Als sich zeigte, dass die Massaker in Paris und in den Provinzen den Kampfeswillen der Hugenotten nicht gebrochen, sondern eher noch verstärkt hatten, schwenkte Katharina wieder auf eine moderate Linie um. Bis zu ihrem Tod Anfang 1589 engagierte sie sich als Vermittlerin zwischen den verfeindeten Konfessionen. Langfristige Erfolge waren ihr aber auch diesmal nicht beschieden. Jeder mühsam ausgehandelte Frieden war von kurzer Dauer. Katharina starb wenige Monate bevor ihr kinderloser letzter Sohn, Heinrich III., dem Attentat eines fanatischen Mönchs zum Opfer fiel. Ein gnädiges Schicksal ersparte es der Königinmutter, das schmachvolle Ende des Hauses Valois miterleben zu müssen. Katharinas ungeliebter Schwiegersohn, der Bourbone Heinrich von Navarra, erbte den Thron. Ihm gelang es nach zähem Ringen, Frankreich aus dem Religionskonflikt herauszuführen. Robert Knecht dämonisiert Katharina nicht, er verklärt sie aber auch nicht. Die Florentinerin war keine gewissenlose Intrigantin und Giftmischerin, aber auch kein herausragendes politisches Talent. Sie war eine Krisenmanagerin, die unermüdlich gegen widrige historische Umstände ankämpfte, vergebens, wie sich am Ende zeigte.

Im englischsprachigen Raum ist Knechts Buch derzeit konkurrenzlos. Es ist als Einstiegslektüre all jenen Lesern zu empfehlen, die sich erstmals mit Katharina von Medici beschäftigen wollen und ein wissenschaftlich solides Werk suchen. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Dezember 2017 auf Amazon gepostet)

Cover des Buches Richelieu (Profiles in Power) (ISBN: 9780582080157)
A

Rezension zu "Richelieu (Profiles in Power)" von R. J. Knecht

Andreas_Oberender
Eine immer noch lesenswerte Einführung in Leben und Politik des Kardinals Richelieu

Seit fast 30 Jahren erscheinen in der bekannten Buchreihe "Profiles in Power" knappe, eher analytisch als erzählend angelegte Biographien bedeutender Herrscher und Politiker der Weltgeschichte. Zu den frühen Bänden gehört die Studie des britischen Historikers Robert Knecht über Kardinal Richelieu. Das Buch ist 1991 erschienen und wurde mehrfach nachgedruckt. Auch heute ist es noch als Print-on-demand erhältlich. Im angelsächsischen Raum hat sich Knechts handliche Studie rasch als Standardwerk durchgesetzt. Sie eignet sich vorzüglich als Einstiegslektüre für all jene, die sich erstmals näher mit Richelieu beschäftigen wollen. Auch deutsche Leser können das Buch mit Gewinn lesen, und das umso mehr, als es hierzulande nach wie vor an brauchbaren Büchern über Richelieu fehlt, seien es Überblicksdarstellungen, seien es umfassende Biographien. Robert Knecht ist eigentlich ein Experte für die französische Geschichte des 16. Jahrhunderts. Das Richelieu-Buch ist sein einziger "Abstecher" ins 17. Jahrhundert. Zwar ist das Buch erschienen, bevor der britische Historiker Nicholas Henshall eine internationale geschichtswissenschaftliche Debatte über das Absolutismus-Konzept auslöste ("The Myth of Absolutism", 1992), aber das heißt nicht, dass Knechts Werk überholt wäre. Es empfiehlt sich, Knechts Buch zusammen mit David Sturdys Studie über die Kardinäle Richelieu und Mazarin zu lesen, die 2004 in der Buchreihe "European History in Perspective" erschienen ist. Beide Bände ergänzen einander sehr gut. Während Sturdy einen längeren Zeitraum behandelt und kräftig am traditionellen Bild von Richelieu als Schöpfer des Absolutismus rüttelt, geht Knecht in seinem Richelieu-Buch auf etliche Aspekte ein, die bei Sturdy aus Platzgründen nur gestreift werden oder gar nicht vorkommen.

Kardinal Richelieu war sowohl zu seinen Lebzeiten als auch nach seinem Tode eine äußerst umstrittene historische Figur. Voltaire nannte ihn den "roten Tyrannen". Romanciers und Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verteufelten ihn als verschlagenen Ränkeschmied und herrschsüchtigen Despoten, der Frankreich unter seine Knute gezwungen und mit harter Hand regiert habe. Manche Historiker sahen in Richelieu den ersten Diktator der europäischen Geschichte. Der Kardinal zog aber auch immer wieder unkritische Bewunderung auf sich. Er wurde in anachronistischer Weise zum Schöpfer des modernen französischen Nationalstaates stilisiert. Robert Knecht schlägt einen Mittelweg zwischen Verdammung und Verklärung ein. Die einseitigen Urteile und Wertungen älterer Zeiten, sowohl positive als auch negative, lässt er hinter sich. Er arbeitet heraus, wie widersprüchlich Richelieu als Mensch und Politiker war. Angesichts dieser Widersprüchlichkeit verbietet sich jegliche Schwarz-Weiß-Malerei, jegliches Jonglieren mit simplen, griffigen Formeln. Knecht hat ein Gespür für Zwischentöne. Er benennt Stärken und Schwächen des Kardinals und zeichnet ein Bild von Richelieus Leistungen, das Erfolgen und Misserfolgen gleichermaßen gerecht wird. Knecht sieht in Richelieu kein politisches Genie, keinen visionären Staatsmann. Er macht deutlich, dass die Handlungs- und Gestaltungsspielräume des Kardinals begrenzt waren. Vielfältige strukturelle Zwänge und Hemmnisse behinderten Richelieu in der Innen- und Außenpolitik. Der Kardinal hatte ambitionierte Ziele (Stärkung der Krone; Verbesserung von Frankreichs Position im europäischen Mächtesystem durch Schwächung der Habsburger), doch nachhaltige innen- und außenpolitische Erfolge blieben ihm weitgehend versagt. Sein Werk, so man diesen Begriff verwenden möchte, war nicht vollendet, als er 1642 starb. Es fortzuführen und zu vollenden blieb seinem Nachfolger Kardinal Mazarin und Ludwig XIV. vorbehalten. Knecht verweist auf die enormen Kosten, die mit Richelieus Außenpolitik und Frankreichs Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg verbunden waren. Die finanziellen Lasten des Krieges führten zu Unruhen und Revolten; drängende innenpolitische Reformen wurden den Erfordernissen des Krieges untergeordnet und aufgeschoben. Wenige Jahre nach Richelieus Tod geriet die Monarchie während der Fronde (1648-1653) in eine tiefe Krise.

Auf knapp 220 Seiten entwirft Knecht ein facettenreiches Porträt des Ministers und Kirchenfürsten Richelieu. Die ersten drei Kapitel sind chronologisch angelegt. Sie schildern Richelieus Weg in die Politik und seinen Aufstieg zum Ersten Minister Ludwigs XIII. Die restlichen Kapitel sind thematisch angelegt. Nacheinander behandelt Knecht alle wichtigen Aspekte von Richelieus Innen- und Außenpolitik: Konflikte mit dem Adel; Kampf gegen die Hugenotten; Teilnahme Frankreichs am Dreißigjährigen Krieg (erst verdeckt, ab 1635 offen); Finanz- und Steuerpolitik; Verhältnis zwischen Krone, Parlamenten (Gerichtshöfen) und Ständeversammlungen; Aufbau der Kriegsmarine sowie Maßnahmen zur Förderung von Schiffahrt und Handel; Kulturpolitik und Steuerung der öffentlichen Meinung. Zu guter letzt wirft Knecht erhellende Schlaglichter auf Richelieus Aktivitäten als Bauherr, Kunstsammler und Mäzen. Auch das Geschick, mit dem Richelieu ein riesiges Vermögen erwarb, wird gewürdigt. Der Kardinal war alles andere als ein selbstloser und uneigennütziger Diener der Krone. Er war durch und durch ein Politiker der Frühen Neuzeit, d.h. er nutzte alle erdenklichen Möglichkeiten, um Besitz und Prestige seiner Familie zu mehren. Knecht gehört zu jenen Historikern, die bezweifeln, dass Richelieu von der "modernen" Idee der Staatsräson geleitet wurde. Unter Verweis auf Richelieus "Politisches Testament" arbeitet er heraus, dass der Kardinal einem vormodernen, religiös geprägten Staats-, Gesellschafts- und Politikverständnis verhaftet war. Richelieu sah seine Hauptaufgabe darin, für die Stabilität der gottgewollten Ständegesellschaft zu sorgen und die ungeteilte Machtfülle des Königtums aufrechtzuerhalten. Moderne politische Konzepte und Vorstellungen mag Knecht bei Richelieu nicht erkennen.

Robert Knechts Studie kann eine umfassende Richelieu-Biographie nicht ersetzen. Erzählerischen Schwung und unterhaltsame Anekdoten bietet das Buch nicht. Das ist der Konzeption der Reihe "Profiles in Power" geschuldet. Knechts gedrängte und zugespitzte Darstellung ist als Startpunkt für eine Beschäftigung mit Richelieu gedacht. Knecht weckt beim Leser ein Gespür für die Komplexität der Aufgaben, mit denen Richelieu als Politiker konfrontiert war. Zugleich bietet er einen faszinierenden Einblick in Richelieus Aktivitäten jenseits der Politik. Gerade die wahrhaft barocke Vielfalt seiner Interessen und Leidenschaften lässt den Kardinal als Staatsmann der Vormoderne erscheinen. Die kommentierte Bibliographie enthält eine Fülle von Hinweisen auf Spezialliteratur zu allen im Buch behandelten Themen. Angesichts seines Alters bewegt sich das Buch natürlich nicht auf der Höhe des Forschungsstandes. Neuere französische Richelieu-Biographien wie die von Roland Mousnier (1992) und Françoise Hildesheimer (2004) hat Knecht nicht verarbeiten können. Er benutzt den Absolutismus-Begriff unbefangener als David Sturdy, in dessen Buch die von Nicholas Henshall ausgelöste Debatte deutliche Spuren hinterlassen hat. Knechts Buch ist aber immer noch eine exzellente Überblicksdarstellung zum Werdegang und zur Innen- und Außenpolitik des Kardinals Richelieu. Man sollte es aber nicht isoliert lesen, sondern in Verbindung mit neueren Arbeiten. Kritisch anzumerken ist, dass Knecht an vielen Stellen zu viel Vorwissen beim Leser voraussetzt. Zu oft werden obskure Personen und Sachverhalte erwähnt, ohne dass eine angemessene (knappe) Erläuterung erfolgt, die dem Leser das Verständnis erleichtert. Bedauerlich ist auch, dass Knecht sowohl im Haupttext als auch im Epilog kaum ein Wort über Kardinal Mazarin verliert, der von Richelieu gezielt als Nachfolger aufgebaut wurde. Wer wissen will, wie Mazarin mit Richelieus schwierigem Erbe umging, der sollte David Sturdys Buch zu Rate ziehen. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im April 2016 auf Amazon gepostet)

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