Rezension zu "The Rise and Fall of Renaissance France (Fontana History of France S.)" von R. J. Knecht
Andreas_OberenderIm Kreis der englischsprachigen Historiker, die sich mit der Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert beschäftigen, nimmt der Brite Robert Knecht (geb. 1926) eine herausragende Stellung ein. Vierzig Jahre lang lehrte Knecht an der Universität von Birmingham. Die meisten seiner Bücher sind erstaunlicherweise erst nach seiner Emeritierung 1994 entstanden, etwa Biographien über Katharina von Medici (1998) und Heinrich III. (2014) sowie eine Studie über den französischen Königshof während der Renaissance (2008). Außerhalb Frankreichs gibt es wohl keinen zweiten Historiker, der Knechts Expertise in Bezug auf die Zeit der späten Valois-Könige überbieten kann. Niemand, der sich mit der französischen Geschichte im Zeitalter der Reformation und der Religionskriege befasst, kommt an Knechts Arbeiten vorbei. Das gilt in besonderem Maße für Knechts Buch "The Rise and Fall of Renaissance France", das 1996 als Teil der "Fontana History of France" erschien. Zum damaligen Zeitpunkt lagen bereits zwei Bände vor, einer über die Revolution und das napoleonische Zeitalter (Donald Sutherland), ein zweiter über das 19. Jahrhundert (Roger Magraw). Weitere Bände waren vom Verlag Fontana Press geplant, sind aber leider nie erschienen. Der Blackwell-Verlag brachte Knechts Buch 2001 in zweiter Auflage heraus.
Knecht spannt einen Bogen vom Tod Ludwigs XI. 1483 bis zur Ermordung Heinrichs IV. 1610. Die Darstellung lässt sich mit einem farbenprächtigen, figurenreichen Wandteppich vergleichen. Das Buch ist konsequent erzählend angelegt. Heutige Leser mögen das altmodisch finden. Aber die ungeheure Dynamik und Dramatik der Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert kann man nur in narrativer Form und epischer Breite anschaulich wiedergeben. Wer sich vertiefend mit der Geschichte Frankreichs am Beginn der Frühen Neuzeit beschäftigen möchte, der muss sich zunächst fundiertes Grundlagenwissen aneignen. Dafür ist Knechts faktengesättigtes Buch hervorragend geeignet. In der angelsächsischen Welt steht das Werk nach wie vor konkurrenzlos da, obwohl es mittlerweile 25 Jahre alt ist. In Deutschland gibt es kein einziges Buch, das sich mit Knechts Opus magnum vergleichen ließe. Der für seine Dynastiegeschichten bekannte Kohlhammer-Verlag hat bis heute keinen deutschen Historiker gefunden, der ein Buch über das Haus Valois schreibt. Knechts Buch ist all jenen deutschen Lesern zu empfehlen, denen die französischsprachige Literatur zur Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert nicht zugänglich ist. In puncto Benutzerfreundlichkeit lässt das Buch keine Wünsche offen: Es enthält Landkarten, mehrere Stammtafeln, ein zehnseitiges Glossar sowie ein vierzigseitiges (!) Personen-, Sach- und Ortsregister.
Eine Rezension von begrenztem Umfang ist kaum geeignet, das Buch angemessen zu würdigen. Der Text ist in 27 Kapitel gegliedert, die im Schnitt 20 Seiten umfassen. Knecht geht chronologisch vor. Die Ereignisgeschichte bildet das Rückgrat der Darstellung. Im ersten Kapitel erörtert Knecht die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Frankreich an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Als das 16. Jahrhundert anbrach, hatte sich das Land gut von den Verheerungen des Hundertjährigen Krieges erholt. Wichtige, regelmäßig wiederkehrende Leitmotive sind Aufbau und Arbeitsweise staatlicher Institutionen sowie das Finanz- und Steuerwesen, bekanntermaßen die Achillesferse jeder frühneuzeitlichen Monarchie. Ausführlich und mit souveräner Kennerschaft behandelt Knecht die großen Themen des 16. Jahrhunderts: Die Italienkriege und der Dauerkonflikt zwischen dem Haus Valois und den Habsburgern (1494-1559); Humanismus, Renaissance und Reformation; schließlich die Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten ab 1562, ein Tiefpunkt der französischen Geschichte. Knecht plädiert dafür, die Gesundung Frankreichs unter Heinrich IV. nicht zu überschätzen. Eine dauerhafte Stabilisierung der inneren Verhältnisse trat seiner Ansicht nach erst unter Ludwig XIV. ein. Mehrfach unterbricht Knecht die Erzählung, um Entwicklungen in den Bereichen Architektur, Kunst und Literatur zu skizzieren oder die Auswirkungen der Religionskriege auf das politische Denken zu analysieren. Auch Frankreichs Beteiligung an der europäischen Expansion nach Übersee ist ein Kapitel gewidmet.
Knecht zieht in seinem Buch die Bilanz seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert. Die kommentierte, nach Kapiteln gegliederte Bibliographie (S. 580-608) ist ein beredtes Zeugnis seines wahrhaft enzyklopädischen Wissens. Nicht nur dieses Wissen an sich ist beeindruckend und rühmenswert, sondern auch die gut verständliche Form, in der Knecht es präsentiert. Seit 1945 hat die Geschichtswissenschaft viele ältere Forschungsmeinungen über das Zeitalter der Reformation und der Religionskriege korrigiert und überwunden. Es ist eine hervorhebenswerte Stärke des Buches, dass Knecht die Ergebnisse der neueren französisch- und englischsprachigen Forschung bündelt und einem breiten Leserkreis zugänglich macht. Ohne Übertreibung kann man sagen: Es ist ein großes Unglück, dass die "Fontana History of France" unvollendet geblieben ist, ein Torso. Knechts Buch steht isoliert da. Angekündigt waren Bände über das 17. Jahrhundert (Joseph Bergin), das 18. Jahrhundert (Olwen Hufton) und das 20. Jahrhundert (Douglas Johnson). Diese Bücher sind nie erschienen. Ob auch Bände über das Mittelalter geplant waren, ist unklar. Die sechsteilige "Short Oxford History of France", erschienen zwischen 2001 und 2003, ist kein Ersatz. Die Bände wurden von Autorenkollektiven verfasst und sind eher analytisch als erzählend angelegt. Für ein historisch interessiertes Laienpublikum sind sie nicht geeignet.
Ein Frankreich-Enthusiast wird nach der Lektüre von Robert Knechts Buch Wehmut empfinden. Das späte 20. Jahrhundert war das Goldene Zeitalter der anglophonen Frankreichforschung. Die Arbeiten britischer und amerikanischer Historiker zur Geschichte Frankreichs haben in Deutschland nie die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen gebührt. Ein Kenner der Materie weiß, wieviele wichtige Bücher unbeachtet und unübersetzt geblieben sind. Inzwischen ist die angelsächsische Frankreichforschung nicht mehr so produktiv wie vor 20 oder 30 Jahren. Vor allem bringt sie keine Gesamtdarstellungen zu einzelnen Epochen der französischen Geschichte mehr hervor. Für deutsche Leser sind ältere Werke wie Knechts Buch so wertvoll, weil auf dem deutschen Buchmarkt seit langem ein chronischer Mangel an GUTEN Büchern zur Geschichte Frankreichs herrscht (einzige Ausnahme: Napoleon-Literatur). Inhaltlich seriöse und zugleich gut lesbare Bücher aus der Feder deutscher Historiker und Sachbuchautoren haben heute ebenso Seltenheitswert wie Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen. Im Lehrangebot geschichtswissenschaftlicher Institute fristet die Geschichte Frankreichs ein Schattendasein. In naher Zukunft wird sie selbst für gebildete Laien so fremdartig und exotisch sein wie die Geschichte Chinas. Robert Knechts großartiges Buch kann schon jetzt als Klassiker gelten. Es wird in den kommenden Jahren noch an Wert gewinnen, denn je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ein anderer angelsächsischer Historiker eine Gesamtdarstellung zur Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert vorlegt, die Knechts Werk ersetzt.