Rezension zu "Quell der Einsamkeit" von Radclyffe Hall
In einem langen Vorspann werden die Leiden einer lesbischen (invertierten, wie die Autorin gerne formuliert) Frau, Stephen, mit männlichem Aussehen in einer Zeit (um 1910) geschildert, wo das faktische Wissen über die Spielarten des menschlichen Geschlechter-Verhaltens nicht wirklich verbreitet ist. Ich habe das mit innere Spannung gelesen. Es ist so gut beobachtet und noch besser, sehr feinfühlig beschrieben. Endlich findet Stephen den Krafft-Ebing in der Bibliothek ihres inzwischen verstorbenen Vaters und wird sich über sich selbst klar. Dieses Wissen führt zu einem Bruch mit der Mutter und einer Flucht von England nach Paris. Dann bei den Ambulanzfahrerinnen an der Front des 1. Weltkrieges taucht Mary, eine Waise, auf, die sich endlich nach langer gemeinsamer Zeit keuschen Zusammenlebens auf Seite 381 von 571 bei einem Urlaub auf Teneriffa outed und ihre Liebe zu Stephen gesteht. Inzwischen herrscht wieder Friede in Europa. Mary, die Frau, macht das alles aus reinem Gefühl heraus und handelt immer nur spontan ohne reifliche Überlegung. So sind Frauen zumindest heute nicht mehr! Waren sie wirklich 1919 so? Lädt Stephen als Sprachrohr der Autorin ihren Frust an den Frauen in dem Platzhalter Mary ab? Nach Schilderung ihres herrlichen Lesben-Lebens in Paris von 1919, verdüstert sich gegen Ende die Harmonie, denn Martin, ein alter Freund von Stephen, tritt auf und verliebt sich in Mary. Mary steht jetzt zwischen Martin, einem Mann und Stephen, einer Frau, die ihr die Liebe beigebracht hatte. Ein Kampf der Giganten Martin gegen Stephen. Schließlich gibt Stephen kleinbei, weil sie für Mary entscheidet, dass eine Ehe mit Martin und mit Kindern das richtige für ihre Frau ist. Mary kommt in dieser Phase des Romans überhaupt gar nicht zu Wort! Niemand fragt sie bist du wirklich bi und kannst mit einem Mann auch? Oder will Radclyffe die Frauen mit diesem Romanende aufrütteln und auffordern, ihre eigene Stimme zu erheben! Auch wenn ich inhaltlich mit dem Ende nicht übereinstimme, ist das doch eines der besten Romane. Dann noch der donnernden Schluss, der lange in mir nachhallt!