Rezension zu "Über den Ungehorsam und andere Essays" von Erich Fromm
Den Esseyband "Über den Ungehorsam" verfasste Erich Fromm kurz vor seinem Tod im Jahr 1980. Er enthält viele Einsichten, die ich aus seinen Büchern "Die Furcht vor der Freiheit" (1941), "Die Kunst des Liebens" (1956) und "Haben oder Sein" (1976) schon kannte.
So wusste ich bereits, welche Bedeutung der Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe dem Ungehorsam von Adam und Eva beimisst: "Die Erbsünde hat den Menschen keineswegs verdorben, sondern setzte ihn frei; sie war der Anfang der Geschichte. Der Mensch musste den Garten Eden verlassen, um zu lernen, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen und ganz Mensch zu werden."
Das zweite Kapitel trägt die Überschrift "Die Anwendung der humanistischen Psychoanalyse auf die marxistische Theorie". Fromm schreibt selbst, dass es neben ihm kaum jemanden gegeben habe, der versucht hätte, die revidierte Psychoanalyse auf das Problem des Marxismus und Sozialismus anzuwenden. "- Unter den anderen Autoren, die in ihren Schriften von einem psychoanalytisch-marxistischen Standpunkt ausgehen, ist Wilhelm Reich der bedeutendste, auch wenn seine Theorien und meine eigenen wenig Gemeinsames haben. Sartres Versuche eine marxistisch orientierte humanistische Analyse zu entwickeln, leiden darunter, daß er zu wenig klinische Erfahrung besitzt und deshalb trotz seiner glänzenden Formulierungen mit der Psychologie nur sehr oberflächlich umgeht."
Aus "Haben oder Sein" habe ich gelernt, dass es zwei Arten des Wissens gibt. Jemand kann sich Wissen aneignen, um damit zu brillieren oder er kann das Wissen anwenden. Sei es Karl Marx, Friedrich Engels, Rosa Luxemburg, Adam Smith, Sigmund Freud, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, um nur einige Größen aus dem zweiten zu Essey zu nennen, Fromm kennt sie nicht nur, er ist in ihr Mark vorgedrungen.
Laut schlug mein Herz im dritten Kapitel, "Propheten und Priester". "Zweifellos war die Kenntnis der großen Ideen der Menscheit noch nie so weit auf der Welt verbreitet wie heute. Noch nie war aber auch ihre Wirkung so gering." Die Diskrepanz erklärt Fromm damit, dass die Ideen nur gelehrt, aber nicht gelebt werden. "Viele Völker hatten Propheten: Buddha verwirklichte seine Lehre, in Christus ist sie Fleisch geworden, Sokrates starb für seine Ideen und auch Spinoza hat sie gelebt."
Die Priester würden die Ideen verwalten, womit sie auf Formeln reduziert würden. "Während selbst ein Kind merken könnte, daß sie genau das Gegenteil ihrer Lehre leben, unterzieht man die große Masse des Volkes einer so gründlichen Gehirnwäsche, daß sie schließlich glaubt, die Priester brächten ein Opfer, wenn sie im Luxus lebten, weil sie eine große Idee zu repräsentieren hatten, ja selbst ihr unbarmherziges Töten geschähe aus ihrem revolutionären Glauben heraus."
Muss ich an dieser Stelle wirklich noch ergänzen, dass es in der Gegenwart mehr wirtschaftliche und politische Priester gibt als religiöse?
"Zum Problem einer umfassenden philosophischen Anthropologie", heißt das vierte Essey. Darin zeigt er, wie die humanistische Philosophie in den verschiedenen Kulturepochen zum Ausdruck kam. Fromm beginnt mit dem buddhistischen Humanismus und endet mit dem von Karl Marx.
Erstaunt hat mich, dass sich Erich Pinchas Fromm, der ursprünglich Rabbiner werden wollte,
am Ende seines Lebens als Sozialist sah und mit einer atheistischen Mystik sympathisierte, die er unter anderem im Zen-Buddhismus zu finden glaubte.
Fromm beschließt das vierte Kapitel folgerichtig mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche: "Gott ist tot." Auch der Mensch liege im Sterben. Geistig Tote können nicht mehr ungehorsam sein, meine ich.
Unter der Überschrift "Den Vorrang hat der Mensch" entlarvt Fromm den Sozialismus seiner Zeit als eine Form des Kapitalismus. Im darauf folgenden Kapitel entwirft er ein Programm für einen humanistischen Sozialismus.
Hier musste ich weinen, weil wir uns 42 Jahre später so extrem weit davon entfernt haben.
Unter "Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens" fand ich folgende Aussage: "Man kann nachweisen, daß die Gier des homo consumens sich hauptsächlich auf den individuellen Konsum von Dingen bezieht, die er ißt (sich einverleibt), während die Benutzung kostenloser öffentlicher Einrichtungen, die dem einzelnen die Möglichkeit bieten, sich seines Lebens zu freuen, keine Gier und Unersättlichkeit erzeugt."
In den letzten beiden Kapiteln seines Buches beschäftigt sich der Autor mit dem Frieden. Sie heißen: "Gründe für eine einseitige Absrüstung" und "Zur Theorie und Strategie des Friedens". Darin ist zu lesen: "Wenn wir weiterhin in dieser Angst vor unserer Vernichtung leben und die Massenvernichtung anderer Menschen planen, werden wir die letzte Chance vertun, die humanistisch-geistige Tradition wiederaufleben zu lassen."
Insgesamt ist das Buch "Über den Ungehorsam" sehr lesenswert!
Jedoch nicht in dieser Ausgabe. Das Büchlein ist zwar handlich, aber die Schrift extrem klein. Auch die Bindung lässt zu wünschen übrig. Die Seiten lösen sich.
Vera Seidl