'Arabischer Frühling'? Mit welcher Ignoranz wurde über diese Zeit in Nordafrika in den Nachrichten nahezu täglich berichtet. Algerien, Tunesien, Libyen, der Tahir-Platz in Kairo, wer entsinnt sich nicht an diese Bilder?
Über die Auslöser dieser 'Revolten', deren Ursachen und auch deren bis zum heutigen Tag feststellbaren Folgen schreibt Rainer Hermann fundiert, nachvollziehbar, belegt auf 16 Seiten Quellenangaben sowie acht Seiten Literaturverzeichnis.
"Libyen ist der gescheiterte Staat, der Europa am nächsten liegt. Die Nato-Mitglieder Frankreich, USA und Großbritannien hatten 2011 mit ihrer Intervention den Sturz des Langzeitherrschers Gaddafi ermöglicht. Sie kümmerten sich danach aber nicht um die Neuordnung des Landes. [...] Milizen füllten das Vakuum, externe Akteure schickten Waffen und Söldner, der Islamische Staat setzte sich vorübergehend fest, und Flüchtlinge aus Afrika gelangten nahezu ungehindert an die Mittelmeerküste, von wo Schleuser sie nach Europa brachten." (Seite 97)
"Die Muslime beteten weiter auf Arabisch, Frankreich ernannte jedoch die Imame, und an den Schulen ersetzte Französisch Arabisch als Unterrichtssprache. [...] 944 waren von den 6500 Grundschulen lediglich tausend für 108 000 algerische Kinder ausgewiesen. Selbst noch 1954 besuchten nur sieben Prozent der algerischen Kinder eine Schule." (S. 159)
"In den von Frankreich beherrschten Maghrebstaaten wurden der Islam und die arabische Sprache zwar gleichermaßen unterdrückt. [...] Die Erklärung vom 4. April 1944 war das politische Dokument für den Unabhängigkeitskrieg. [...] Frankreich reagierte mit großer Gewalt und Brutalität. Die Organisatoren der Kundgebungen wurden verhaftet, gedemütigt und gefoltert." (S. 162)
"Selbst wenn es gelingen sollte, alle Routen über das Mittelmeer zu kontrollieren, droht mit dem Bevölkerungswachstum Afrikas ein Migrationsdruck mit völlig neuen Dimensionen. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass sich die afrikanische Bevölkerung bis 2050 von 1,3 Milliarden auf 2,5 Milliarden fast verdoppelt und dass sie bis 2100 auf 4,3 Milliarden anwächst. Allein der Zuwachs von 3 Milliarden Menschen entspricht dem Fünffachen der für 2100 erwarteten Bevölkerung Europas, inklusive Russland." (S. 185)
"Heute ist der Fruchtbare Halbmond die am stärksten zerstörte Region des Nahen Ostens. Wo die arabische Hochkultur einst in ihrer Blüte gestanden hat, erstreckt sich heute ein Trümmerfeld, das in Teilen dem des Dreißigjährigen Krieges in Europa gleicht." (S. 201)
Der Autor schildert aber nicht nur die historischen Hintergründe und Ursachen für den maroden Zustand der meisten arabischen Staaten. Er geht ebenso fundiert auf die leise. still und heimlich durchgeführten Schritte der Volksrepublik China, nicht nur an der Nordküste Afrikas, sondern auf dem ganzen afrikanischen Kontinent, an den Mittelmeerküsten Südost-Europas an Einfluss zu gewinnen. Beispielsweise durch die Pacht oder gleich den Aufkauf ganzer Häfen.
Im letzten Kapitel mit dem Titel "Eine Denkaufgabe für Europa" widmet sich Rainer Hermann den Fragen und auch den möglichen Antworten darauf, wie Europa mit dem zu erwartenden Migrationsdruck umgehen soll, umgehen muss. Seine Gedanken hierzu sind alles andere als Abwehr, Stacheldrahtzäune, Mauern an den Grenzen errichten oder mit Kriegsschiffen Boote überfüllt mit Flüchtlingen am Betreten von EU-Mitgliedsstaaten zu hindern.
Eines sollte man beim Lesen des Buches stets im Hinterkopf halten: an den Zuständen in der Levante, im Nahe und Mittleren Osten, in den Maghrebstaaten, in Afrika haben die Staaten Europas eine gewaltige Portion Mitschuld. Stichwort Kolonialreiche. Der Reichtum Europas ist nicht zuletzt auf der gnadenlosen Ausplünderung dieser Regionen begründet.