Mitte des 19. Jahrhunderts befreiten sich die ersten Maler von der Vorgabe, die sie umgebende Welt in ihren Gemälden sachlich und korrekt wiederzugeben. Der subjektive Gesamteindruck einer Szene war ihnen wichtiger als photorealistische Details. Sie wagten dicke, verwischte Pinselstriche, die bei der Betrachtung aus der Nähe gar keinen Sinn ergaben: Erst wenn man ein paar Schritte zurücktrat, konnte man erfassen, was das Bild darstellen sollte. Der Impressionismus war geboren, seinerzeit umstritten, heute aber die Stilrichtung, die beim breiten Publikum ungeheuer beliebt bleibt, auch wenn die Malerei sich längst weiterentwickelt hat seitdem.
Zu der Zeit, als Monet und Renoir und Sisley ihre Ateliers in Paris verließen, um die Eindrücke der freien Natur auf ihren Leinwänden einzufangen, war die Literatur noch weit hinterher. In der schreibenden Zunft begrub man in jenen Jahren erst die Romantik mit ihren symbolischen Überhöhungen und den heldenhaften Schicksalen Auserwählter und begann, die ungeschminkte Wirklichkeit abzubilden, sich mit dem ganz normalen Leben ganz normaler Menschen als Thema für die Literatur zu beschäftigen und zudem die Tiefen der menschlichen Seele auszuloten. 'Realismus' sollte die Epoche später genannt werden, weil jede Ausdrucksform der Kunst ihre eigene Schublade braucht.
Die bildende Kunst war schon einen Schritt weiter, in Richtung Kubismus, Expressionismus, Abstraktion, als sich Ende des 19. Jahrhunderts die ersten zaghaften Versuche andeuteten, auch in der Literatur die formalen Grenzen zu sprengen und sich neuen Formen zuzuwenden. Rainer Maria Rilke war mit den aktuellen Entwicklungen in Malerei und Bildhauerei wohl vertraut, schließlich arbeitete er über längere Zeit als Sekretär von Auguste Rodin. Rilke selbst schuf einen Meilenstein moderner Literatur in deutscher Sprache mit seinen "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", die 1910 erschienen sind.
Als Lyriker war Rilke zu dieser Zeit schon anerkannt und erfolgreich - auch wenn er als Versedichter bis dahin der Konvention verhaftet blieb und nicht als Avantgardist auffiel.
Ganz anders in diesem Prosawerk, das so tut, als sei es das Notizbuch eines dänischen Dichters, der in Paris lebt. Entsprechend gibt es keine Handlung, keine Figuren im herkömmlichen Sinne, nur Fragmente, Vignetten, Miniaturen, die sich in impressionistischer Manier zu einem Ganzen fügen sollen. Rilke wagt sich hier in ganz vielen Aspekten auf Neuland.
Inhaltlich lässt sich das Buch schwer fassen und wiedergeben. Es beginnt mit Notizen aus Paris, dem modernen Moloch, der sich für den Erzähler vom idyllischen Bild der Kunst- und Geistesmetropole, das ihn hergelockt hat, fundamental unterscheidet und ihn mehr erschreckt als fasziniert. Lärm, Verkehr, Elend umgeben ihn, und er, der mittellose Künstler aus gutem Hause, sorgt sich, die bürgerliche Fassade zu wahren und nicht erkennen zu geben, wie schlecht es eigentlich um ihn und seine Verhältnisse steht. Seine Gedanken fliegen in die Kindheit, Begegnungen und Eindrücke des kleinen Malte auf den Gütern der Familie in Dänemark. Und dann mischen sich rauschhaft visionäre, philosophierende Abschnitte mit historischen und literarischen Gestalten, deren Inneres er zu erkunden sucht.
Das ist schon fulminant und radikal gemacht. Abrupt wechseln die Perspektiven, eben hat er noch über die - dänische?- Flamme Abelone und sein Verhältnis zu ihr sinniert, da redet er sie im nächsten Abschnitt schon als Adressatin des Textes per Du an und ist mit ihr in einem Schloss irgendwo in Frankreich und zeigt ihr die Gobelins. Völlig assoziativ und frei lässt er seiner Feder den Lauf, um weltanschauliche Gedankenfetzen zu Papier zu bringen.
Das Spiel mit der Identität und dem Ursprung eines Textes ist auch in damliger Zeit nicht mehr neu. Aber der Autor treibt es auf die Spitze: Tut so, als sei er ein Däne, liefert uns als solcher intensive Erinnerungen eines Kindes - aber was davon ist erfundener Brigge, was authentischer und verkleideter / versteckter Rilke? Die Vexierbilder der Autofiktion sind hier schon vorgezeichnet, hundert Jahre, bevor Knausgård & Co damit die Massen verzückt haben. Der Knabe im Mädchengewand, der die tote Schwester ersetzen muss - das war das große Kindheitstrauma des kleinen René R. - hier wird es verfremdet und doch bekenntnisartig zu Papier gebracht. Auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk als Bestandteil der Künstlerseele, die uns hier in toto ausgebreitet weden soll - immer wieder finden wir in den literarischen und historischen Abschnitten Figuren und Themen, an denen auch Rilke gearbeitet hat.
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sind also in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, sie sind neuartig und mutig, sie sind ungeheuer modern (auch im Vergleich zu dem, was Rilke als Lyriker schreibt!), für die Literaturwissenschaft bieten sie eine überreiche Fundgrube zum Analysieren und Vergleichen. Ein Monolith, ein Meilenstein, ein Referenzpunkt, der wahrscheinlich den Beginn der literarischen Moderne markiert. Der Literaturhistoriker in mir ist von diesem Werk angemessen begeistert.
Bei mir als stinkormalem Leser allerdings muss ich sagen, fällt das Buch durch. Zugestanden, es sind interessante und eindrucksvolle Episoden darunter: die Momente aus Paris etwa oder auch die Erinnerungen an die Verwandtschaft in Dänemark. Die philosophierenden Episoden dagegen - sorry, die finde ich schlicht unlesbar. Wohlgeformte Worte mit schönem Klang, die aber selbst beim dritten und vierten Lesen einfach keinen Sinn ergeben wollen. Da hat sich einer an Bergson und Nietzsche berauscht und sich anstecken lassen und im Taumel der Begeisterung seine eigenen Zarathustra-Fetzen als ekstatisch raunendes Geschwurbel festgehalten. Mir kam beim Lesen immer wieder Loriots Dichter Lothar Frohwein in den Sinn mit seiner 'Melusine': "Taubtrüber Ginst am Musenhain. Taubtrüber Hain am Musenginst. Krawehl!"
Auch bei seinen historischen Vignetten schert sich Rilke nichts darum, ob man ihm folgen kann. Das ist programmatisch natürlich konsequent, aber mir als Leser hilft es auch nicht weiter: Von Karl dem Kühnen weiß ich als mittelgebildeter Teil meiner Generation so wenig wie von Papst Johannes XXII. (geboren als Jakob von Cahors, wie ich bei Wikipedia erspickt habe). Die Ratschläge der Madame Louise Labé (1524-1566) an Mademoiselle Clémence de Bourge sind mir ebenso fremd, und ich wette, der überwiegenden Mehrheit meiner Mitmenschen geht es genau so (Rilke hat das olle Buch übersetzt, daher war ihm das Thema vertraut).
Für mich ergibt sich aus diesem einzigartigen Nebeneinander von höchst lesenswerten und unerträglichen oder unverständlichen Vignetten und Facetten auch beim Zurücktreten - im Gegensatz zu dem Effekt eines impressionistischen Gemäldes - eben kein schlüssiges Gesamtbild, das ich erfassen und genießen kann. Alles, was Rilke uns zeigt, ist das schwammige Zerrbild einer zerfetzten Künstlerseele. Da bleibe ich lieber bei seinen Panthern und Karussellen.