Rezension zu "Alexander. Annas Sohn.: Lebenswege" von Rainer Schneider
Ich möchte zunächst betonen, dass ich dringend empfehle, Annas Geschichte im Vorfeld zu lesen. Bei mir liegt sie inzwischen Jahre zurück und ich erinnerte mich längst nicht mehr an alles, eher an Fragmente. Und ich muss ehrlich sagen, dass es mein Leseerlebnis dahingehend eingeschränkt hat, dass ich durch einige Fragezeichen im Kopf nicht die Empathie insbesondere für Anna empfinden konnte, die möglich gewesen wäre, wenn mir ihre Geschichte präsenter gewesen wäre. Ich würde Alexanders Geschichte ganz klar als eine Art Fortsetzung der Geschichte Annas sehen, auch wenn beide Geschichten in sich abgeschlossen sind.
In der Kurzform: Hier liegt ein weiterer gut gelungener Band der Lebenswege-Reihe vor!!
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Handlung (vermutlich trotz aller Bemühungen voller Spoiler): Die Geschichte beginnt mit Annas fragmentarischer Tonbandaufzeichnung. Sie befindet sich mit Richie und deren gemeinsamen Sohn Alexander in Thailand. Die Herrschaften sind unterwegs, sie ist allein im Hotel geblieben und plötzlich sieht sie sie: Die riesige Welle. Anna ist weg und wird nie wieder gefunden. Alexander wächst auf in dem Glauben, seine Mutter sei bei diesem Tsunami ums Leben gekommen, jedoch kommen mit der Zeit begründete Zweifel daran auf.
Die Geschichte handelt in Alexanders jungem Erwachsenenleben, also weit nach der Wende. Er studiert momentan Gamedesign und weiß bereits, dass das nicht die Endstation für ihn ist. Wohin es weitergehen soll, weiß er aber auch noch nicht. Sein Studium macht er eher so nebenbei. Zu seinem Vater Richie hat Alexander ein gutes Verhältnis, allerdings ist Richie oft auf Reisen und hat insgesamt wenig Zeit für seinen Sohn.
Richie hat inzwischen eine eigene Firma aufgebaut, die sich unter anderem mit IT beschäftigt — und hier vernetzen sich die Angelegenheiten: Als Richie in den Servern der Uni ein Sicherheitsleck entdeckt, schaltet sich Richies Firma ein. Alexanders Dozent und Namensgeber ist ein alter Bekannter seiner Eltern und hängt in allem mit drin. Das Ganze ist tatsächlich etwas verworren, aber ich habe mein Augenmerk im Wesentlichen darauf gelegt, wie Alexander das Vermächtnis seiner Mutter aufarbeitet und welche gestörte Mutter-Sohn-Beziehung die Arme hatte. Man möchte sich auch gar nicht ausmalen, wie Alexander sich fühlt, als er davon erfährt.
Wir erfahren in Alexanders Geschichte auch viel über Anna. Sie konnte nach der Wende kein "neues" Leben beginnen, das DDR-Leben nicht hinter sich lassen; es holte sie immer wieder ein. Sie arbeitete bis zuletzt an einem Projekt, um alles aufzuarbeiten. Besonders einschneidend, nicht nur für Alexander, sondern auch für mich, waren Annas Gedanken über ihren Sohn, den sie einfach nicht lieben konnte, nachdem sie Jahre zuvor ihre Tochter verloren hatte. Hier habe ich auch am stärksten wahrgenommen, dass Annas Lebensweg bekannt sein sollte. Wer nicht gelesen hat, wie es ihr damals mit ihrer Tochter ergangen ist, wie Anna es erlebt hat, wird ihre Tagebuchaufzeichnungen anders auffassen: Nüchterner und verständnisloser. Denn ihre Tochter wurde eben nicht einfach vergiftet. Ich glaube, Anna bleibt einem Leser, der sie nicht wirklich kennengelernt, sondern der nur ihre Hinterbliebenschaften zu lesen bekommen hat, wesentlich abstrakter, fremder und irgendwie auch weniger authentisch. Und das wäre schade, denn Anna ist ein sehr spannender Charakter!
Auch über Richie erfahren wir rückblickend so manches, was zumindest ich nicht hätte erahnen können.
Besonders beeindruckend ist, wie sich die Handlungen zweier Bücher hier ineinander fügen und Stück für Stück weiter aufklären.