Was kann ein Leben?
Manchmal tagtäglich, doch aber hin und wieder fragt sich der Mensch, wo sein Weg ihn hinführen möge. Was er auszurichten habe in dieser jener Welt, die ihn so tolerant beherbergt und doch auch oft in die eigenen Grenzen verweist.
Dies mag sich Wilhelm Baumeister, Witwer und Vater einer kurz vor dem Examen stehenden Tochter, des Öfteren fragen. Von Beruf Schriftsetzer, er hat an einer Linotype gearbeitet, ist er nach der technischen Revolution im Buchdruck frühpensioniert worden und verbringt seine Tage nun allein in der „fränkischen Hofreite“, seinem Anwesen im hessischen Odenwald, das einst ein großbäuerliches Gut gewesen ist.
Eines Vormittages trifft Baumeister beim Spaziergang zum Friedhof Richtung Ober-Nauses auf den wirklich wundersamen Richard Skala. Beide kommen recht schnell ins Gespräch. Da erfährt Baumeister auch, dass Skalas Spazierstock nicht irgendein Stock ist, „sondern ein Produkt der altehrwürdigen Londoner Manufaktur James Smith&Sons, >eine Spezialanfertigung<“ gar, die er für seine cloud-walks, seine Wolkenspaziergänge, benötige. Skala ist Spaziergangswissenschaftler und Künstler. Das reizt Baumeister natürlich.
Maßanfertigung. Maßarbeit. Das ist Baumeister nicht fremd. Ein wenig begriffsstutzig allerdings ist er anfangs schon, als ihm Skala in seinem Haus in Schloss-Nauses das „INSTITUTE FOR THE STUDY OF NATURAL PHENOMENA - SCHLOSS NAUSES“ zeigt, welches identisch ist mit dem für Skala vorgesehenen Wohnraum. Dort verstaut der Wolkenforscher seine cloud-walk-kits, die Wolkenkisten, und die Flaschen, in denen sich die Wolkenentnahmen verschiedenster Berge befinden, Wolkenproben des Ben Lomond oder des Hohen Meißners zum Beispiel.
Baumeister ist fasziniert. Wieder zurück in der Hofreite entschließt er sich, Richard Skala seinen leerstehenden Glaspalast – eine ehemalige, jetzt renovierte Stallung „mit hervortretende[m] Glasportal“ - als Lager für seine Wolkenkisten zur Verfügung zu stellen. Dieser nimmt die freundschaftliche Geste mit offenem Geist und Dankbarkeit an. Baumeister wird ein Skala-Archiv schaffen, denn die Arbeit und das Denken seines neuen Freundes beschäftigen ihn tief und werden für den Frühpensionär zum Lebensinhalt und Wegweiser im Umgang mit dem alltäglichen Dasein.
Damit befindet sich der Leser schon mitten im Thema des ersten Teiles der Künstlertrilogie von Rainer Wieczorek. Für 2010 und 2011 sind die Folgebände „Tuba-Novelle“ und „Der Intendant kommt“ geplant.
Eine Novelle über die Kunst und das Leben habe er vorgelegt, der Autor und ‚Mit-Programmleiter‘ des Darmstädter Literaturhauses, schreibt der Dittrich Verlag. Tatsächlich verwebt Wieczorek ganz nebenbei Vorstellungen über Kunst und Leben in der Betrachtung der Hauptfiguren Baumeister, Skala und Paula miteinander und vermag die Charaktere durchaus lebensnah und sympathisch zu formen und seine Geschichte leise und ruhig zu erzählen.
Baumeister scheint vom Leben nicht geringfügig gebeutelt zu sein. Seine Frau Roswitha hat er verloren, die in Kiel studierende Tochter kommt eher selten zu Besuch, das Anwesen ‚Hofreite‘, das er bewohnt, ist für einen Menschen eh viel zu groß. Doch Baumeister betrachtet das Leben genügsam und ruhig. Der Alltagstrott stört ihn nicht wirklich, er unterhält die Hofreite so, wie es seine Roswitha getan hätte und freut sich, wenn Tochter Paula zu Besuch kommt. Sie spornt ihn auch an, das Richard-Skala-Archiv geplant und mit einem PC ausgestattet zu archivieren. Dabei fasziniert die Tochter vor allem auch die Art und Weise der Arbeit dieser beiden Menschen. Ihr Vater, der dem Künstler Skala ein Forum für seine Arbeit ohne Gegenforderungen schafft und Skala, der sein Leben einer Kunst widmet, für die er vor allem keinen Ruhm erwartet und mit der er wohl auch kein Geld verdient.
Als Paula einmal vor dem Bahnhof in Darmstadt auf ihren Vater wartet, fällt ihr Blick auf das Verlegerviertel, in dem Baumeister jahrelang gearbeitet hatte, „[…] diese Betriebe gab es nicht mehr, sie waren Ingenieurbüros, Serviceunternehmen gewichen.“ Paula studiert passenderweise Soziologie und arbeitet gerade an einer „Studie, die >>Zukunft der Arbeit<< betreffend“. Für Baumeister bildet die Verbindung zu seiner Tochter die einzige Berührung zur gegenwärtigen Berufswelt. Und so arbeiten sich diese beiden verschiedenen Sichtweisen, die Novelle wird wechselnd aus Paulas und Baumeisters Perspektive erzählt, aneinander ab.
„In dieser Novelle geht es um Bildende Kunst. Das Geschehen wird aus der Sicht eines Rezipienten erzählt“, schreibt Wieczorek auf seiner Homepage. In der Tat. Dieser Novelle liegen indirekte Erzählstrategien zu Grunde. Und machen damit das Leseerlebnis auch zu einem so träumerisch-ruhigen Trip in die Sphären der menschlichen Nützlich- und Notwendigkeit. Rückblickhaft liegen der Novelle kursivgedruckte Abschnitte zu Grunde, die wie Interviewfetzen das Arbeitsleben Baumeisters aufarbeiten und so seinen ehemaligen Beruf als Schriftsetzer würdigen, aber auch als Kritik an der maschinenproduktionsorientierten Gesellschaft gelesen werden können. Und so befindet sich Baumeister nun in der Funktion des Archivars der Kunst von Richard Skala und wird dabei zum Spiegel seiner Arbeit, seines Lebens vielleicht.
Was kann ein Leben? Weniger als man glaubt, vielleicht. Mehr aber als man jemals gedacht hätte. Das allein beweist schon Rainer Wieczoreks Künstlernovelle.
Fazit: Dieses kleine, rund 140 Seiten umfassende Buch erzählt ruhig und träumerisch von Leben, Arbeit und Selbstbestimmung. Dabei changiert die Novelle zwischen den drei Hauptpersonen Baumeister, Skala und Paula, die ihr Leben recht unterschiedlichen Plänen widmen und formt auf fiktionaler Ebene eine Stellungnahme dazu aus, was ein Mensch im frühen 21. Jahrhundert zu leisten im Stande ist, sein könnte oder müsste.
Der Leser darf auf den Folgeband im Frühjahr 2010 gespannt sein!