Eine dokumentarische Beschreibung eines terroristischen Aktes? Eine Seelenbeschreibung zweier junger Menschen, die konträrer nicht sein könnten und doch eine gemein-same Basis haben? Ein morbider Liebesroman, versteckt hinter dem politischen Gewand? Ist es eine Art Abenteurroman gewürzt mit Prisen von Gewalt und Erotik?
Bringt es uns Aufklärung? Aufklärung über den Fanatismus Koran-gläubiger? Oder über den Fanatismus im allgemeinen? Über reli-giöse Manipulationen, die letztendlich doch wieder nur dem Faktor „Macht“ obliegen? Über die naive Leichtgläubigkeit der Menschen, die sich nach Reinheit und Sicherheit sehnen, nach Gott?
Bleiben wir bei den Fakten.
Fakt ist, dass der Heilige Bezirk in Mekka, DER Heilige Ort des muslimischen Glaubens, im späten Herbst des Jahres 1979 von 500 salafistischen Kämpfern unter dem Kommando von Mudschan al Kutaibi, einem ehemaligen Korporal der saudischen Nationalgarde. in Besitz genommen wurde. Tausende von Pilgern aus aller Welt hielten sich aus Anlass der Umra, der kleinen Wall-lahrt und dem Beginn eines neuen Jahrhunderst nach islamischer Zeitrechnung, dem 1. Muharram des Jahres 1400 im Bezirk der Kaaba auf.
Sie wurden Opfer und Geiseln einer fanatischen Gruppe von Männern, die glaubten, den Mahdi gefunden zu haben und ihn als neuen Herrscher der Welt auf den Thron bringen wollten. Der Mahdi, der Erlöser, der in der Endzeit erscheinen, Gerechtigkeit auf die Erde bringen und das Unrecht auf der Welt beenden sollte.
Mahdi, das ist im Judentum der Messias, im Christentum Jesus und selbst in den asiatischen Religionen gibt es einen solchen Heilsbringer und Erlöser.
Der Roman beschreibt die Tage Besetzung, fünf ingesamt. Und bringt uns die Protagonistin Sarab alias Saifallah näher. Sarab als Kämpfer, als Mann verkleidet, ihrem Bruder nachfolgend, den sie fast zwanghaft verehrte, den Liebling ihrer Mutter, der „Eisernen“. Sarab, die ihren Vater liebte und sich doch nach der Mutter sehnte. Saifallah zog mit den Gewehren des Vaters zu Mudschan al Kutaibi nach Medina. Sie folgte ihrem Bruder, alle Brücken zu ihrem Wüstendorf abbrechend, im Gemeinschaftsleben aufge-hend, im Training in der Wüste. Fasziniert vom propagierten Mahdi, fast eine erotische Faszination. Ein feinsinniger, ehrlicher Mann. 500 Kämpfer, ausgestattet mit den detaillierten Plänen der unterirdischen Gassen, Höhlen, Kammern und Kanälen des Kaaba-Bezirks mit 200.000 qm. 30 Toren, mit einem Säulenwald von Hunderten Marmorsäulen.
Die Botschaft, dass der Mahdi wie im Koran geschrieben, in Mekka erschienen sei, wurde von den Pilgern nicht mit Jubel-schreien aufgenommen, nicht mit ekstatischen „Allahu akbar, Gott ist der Größte“, begrüßt. Sondern mit Angst und dem einzigen Gedanken, dem Tod zu entrinnen. Die Erstürmung der Anlage durch die saudische Nationalgarde und die Kämpfer der franzö-sischen Eliteeinheiten, das eingesetzte Gas: Es gab kein Entrin-nen. Der „Mahdi“ war genauso sterblich wie Kämpfer und Geiseln.
Beschreibungen der Todeskämpfe, des Blutrausches. Als ob dies ein Zeichen des Lebendigseins bedeutete. Töten – alles, was fremd und anders war, musste getötet werden. Musste degradiert werden zu Gottlosen, Ungläubigen, zu Kakerlaken, wie in Ruanda oder auch im Dritten Reich. Woher nehmen Fanatiker ihre Über-zeugung, ihr Glaube und ihre Gesinnung seien die einzig wahren Wege zum Paradies. Woher der besessene Glaube des Auser-wähltseins wie die Kreuzritter und Zeloten, wie die RAF, Al Qaida und der IS und auch die faschistischen Bewegungen in Europa. Woher nehmen sie das Recht, andere Lebewesen, menschliche Lebenwesen, auszumerzen.
Woher überhaupt der Glaube an das Paradies? Und wozu?
Sarab trifft durch Zufall auf den französischen Elitesoldaten Raphael, der hinter seinem stahlharten kriegmaschinigen Corpus einen sensiblen Kern versteckt, auch er ein „muttergeschädigtes“ Kind. Beide leben in ihren inneren Käfigen, dem westlichen und dem orientalischen.Sie verbindet eine Hassliebe und erst ganz langsam, peu a peu, entwickelt sich in Paris, wohin Raphael die junge Frau unter falschem Namen schmuggelte, eine Beziehung, eine Liebesbeziehung, die jedoch immer wieder von Paniken und Depressionen, Albträumen und Ängsten heimgesucht wird.
Wir erleben das Sichherantasten des Beduinenmädchens an die westliche „Freiheit“, aber immer wieder blinken Relikte aus ihrer Vergangenheit auf: die zwanghafte Sucht nach Reinheit : See-lischer und körperlicher Reinheit. Immer wieder tauchen die Getö-teten des Kampfes auf und auch Raphael wird gequält von traumatischen Bildern und Szenen. Bilder seiner soldatischen elitären Greueltaten, verbrämt mit Heldenmut und Soldatenehre.
Beduinenmädhen trifft auf männliche „Tötungsmaschine“. Beides kann uns Angst machen. Denn beide sind charakterisiert durch blinde Gefolgschaft. Die inneren Kämpfe der beiden sind recht gut ausgeleuchtet und doch springt der Funken des Nachvollziehbaren nicht über. Sie bleiben mir fremd. Sollen sie die Wunden von Okzi-dent und Orient versinnbildchen?
Ein Roman aus einer anderen Welt, oft überfrachtet, in vielem zu unglaubwürdig, zu unwahrscheinlich. Aber was ist heute schon glaubwürdig oder wahrscheinlich? Eine intensive Lektüre: eine Liebesgeschichte, die sich mit den historischen Vorfällen verbindet und mit ihnen verstrickt ist. Gekonnt geschrieben, einfühlsam und kenntnisreich. Ein exotischer Liebesroman in der Tradition von „Himmel über der Wüste“ und „Der englische Patient“. Aber: Eine Verschlankung des Textes wäre dem Gesamten zuträglich.
Raja Alem schreibt über sich selbst und den Prozess ihres Schreibens: "Der Augenblick des Schreibens ist so besonders, so geheiligt, ich befinde mich an einem Ort, an dem ich nicht berührt werde von dem, was erlaubt ist und was nicht. In diesem Moment der Trance existiert die Zensur für mich nicht. Ich schreibe frei, wie ich im Traum fliege”.
Die Autorin selbst wurde 1970 in Mekka geboren. Ein für saudische Verhältnisse eher ungewöhnlicher Lebenslauf: sie studierte englische Literatur, lebt heute in der Hafenstadt Dschidda und in Paris. Stellte mit ihrer Schwester, einer Malerin, eine Lichtskulptur auf der venezianischen Biennale aus.
Vielleicht sind die saudischen Frauen angekommen in der Welt, in unserer Welt? Und wir dürfen durch Autorinnen wie Raja Alem teil-haben und eintauchen in diese uns so fremde Welt der arabischen Halbinsel.