Cover des Buches Das kurze Leben des Ray Müller (ISBN: 9783421046390)
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Rezension zu Das kurze Leben des Ray Müller von Ralf Bönt

Opfer oder Täter?

von 19angelika63 vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Ein Buch das mich nachdenklich zurück lässt ... und eine Frage bleibt ... sind wir nicht alle täglich Opfer und Täter zugleich?

Rezension

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19angelika63vor 9 Jahren

Klappentext
Marko Kindler sitzt allein in einem Verhörraum der Polizei. Er wartet auf den Psychologen und versucht zu begreifen, was in der kurzen Zeit zwischen der Geburt seines Sohnes Ray und der Flucht geschehen ist:
Da war die Nachricht vom Tod seiner engen Freundin, der New Yorker Malerin Nele Black. Ihre Krankengeschichte voller diffuser Symptome war, vom Zittern bis zur Schlaflosigkeit, seiner eigenen so ähnlich und fügte sich nahtlos in ihre Erzählungen über Missbrauch und familiärer Gewalt.
Jetzt hat Marko sein eigenes Leben vor Augen:
wie die Mutter ihn mied und der Adoptivschwester so nah war, wie der Alltag mit seiner Jugendliebe zu einem Korsett der Erwartungen und er ganz krank wurde. Dann die Gesundung und die große Freude über ein neues Leben mit Lycile und Ray.
Aber nach der Trauerfeier für Nele Black übermannt ihn die Angst, dass er keine Erfüllung finden wird, auch nicht in dieser Vaterschaft. Es kommt zu einem Kurzschluss.


„>Man sieht nur<, sagt sie beim Einbiegen in unserer Straße, >was man weiß<.“ (Seite 25)
„Sehen lernen bedeutet, die eine richtige Verbindung zu trainieren und alle anderen zu kappen.“ (Seite 28)

Marko ist glücklich. Seine Freundin Lycile erwartet in wenigen Tagen ihr erstes gemeinsames Kind. Endlich verläuft sein Leben, wie er sich immer erträumt hat. Nach der Entbindung wieder zu Hause, erfährt Marko, dass seine Freundin Nelly Black verstorben ist. Ihr Kontakt war einmal sehr eng, doch in den letzten Monaten nur noch sporadisch. Marko macht sich auf den Weg nach New York, um an der Trauerfeier teilzunehmen. Nach seiner Rückkehr ist allerdings nichts mehr wie es war. Etwas hat ihn verändert und lässt ihn eine Tat begehen, die er sich niemals hätte vorstellen können.

„Eng war unser Kontakt aber schon da nicht mehr gewesen, denn ich erzählte ihr nicht mehr alles, ließ das Wichtige weg, und wenn man das Wichtige weglässt, erzählt man sich gar nichts mehr.“ (Seite 35)

Im Verhörraum erinnert er sich an seine Vergangenheit. An sein Leben vor Lycile und vor Ray. Er erinnert sich an seine Zeit mit Nelly in New York und das er in ihr endlich eine Seelenverwandte gefunden hatte. Beide haben keine einfache Kindheit. Nelly wurde von ihrem Vater missbraucht und Markos Mutter vernachlässigte ihn, gab ihm nicht die Liebe und Zuwendung die er gebraucht hätte. Nelly und Marko scheinen sich so nah zu sein und dann doch wieder nicht.

Während Nelly einen Mann kennen und lieben lernt, der allerdings die Muster der Vergangenheit wiederholt, trennt sich Marko von seiner großen Jugendliebe. Er wird krank und steigert sich immer mehr in diese Krankheiten hinein bis hin zur Tablettensucht und Wahnvorstellungen. Doch im Gegensatz zu Nelly schafft Marko den Absprung und wird wieder gesund. Er lernt Lycile kennen, die beiden bekommen ein Kind … alles scheint perfekt … bis zu jenem Tag …

„Sie hätte mich krank gemacht, paranoid, hätte mich mit ihrem Denken wieder angesteckt, sie hätte mich nur noch mal in Dunkelheit getaucht, diese Kraft hatte sie, es fiel ihr ganz leicht. Satt mit ihr darüber zu reden, wie wir einen Sommer und einen Winter und noch einen Sommer lang über alles geredet und dabei zu oft das Elend erkannt hatten, das zwischen den Menschen blühte wie Löwenzahn auf einer Brache, hatte ich lieber geschwiegen.“ (Seite 39)

Ralf Bönt Roman über „Das kurze Leben des Ray Müller“ lässt mich von der ersten Seite an nicht mehr los. Als Leserin weiß ich, dass eine schreckliche Tat geschehen wird. Wann sie sein wird und auch wie sie sein wird erfahre ich erst so ziemlich am Ende des Buches. Doch bis dahin geht mir das Leben des Marko Kindler unter die Haut. Vor allem konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass Marko seinem Sohn etwas antun könnte. Wenn man liest wie liebevoll er mit dem kleinen Kerl umgeht, geht einem das Herz auf und man denkt nur … was mag passiert sein, dass alle so eskaliert …

Eigentlich möchte Marko alles richtig machen. Wie alle Menschen dieser Welt. Doch irgendwie schafft er das nicht und je mehr er es versucht, desto mehr verstrickt er sich. Immer schaut irgendwer verächtlich auf ihn herab … die Mutter, die große Jugendliebe, Lycile und selbst der Polizeipsychologe.

„Je mehr Hände ich sah, desto besser ging es mir an der Hand meiner Mutter, denn der Augenblick, in dem ich unüberlegt und getrieben von dem Wissen, das Richtige zu tun, eine greife und weg sein würde, kam näher. Dachte ich. Wahrscheinlich erwartete ich, dass meine Mutter mich doch finden würde und an sich drücken, bebend vor Glück, mich wiederzusehen. Ich wäre nicht so distanziert durch mein Leben gelaufen, wenn das geschehen wäre, ich hätte die Welt und meinen Körper als Freund sehen können, hätte mehr zu geben gehabt. Wenn sie mich einmal so gehalten hätte, hätte ich das weiter geben können, statt nur unsicher nach der nächsten Falle im Leben zu schielen und mich dafür zu entschuldigen, dass ich da war. Was andere nervt. Aber ich ließ ihre Hand nicht los und wartete auf den richtigen Moment, bis sie es war, die zuerst meine Hand losließ, indem sie starb. Satt die richtige Hand zu finden, hatte ich die falsche verloren.“ (Seite 92/ 93)

Ralf Bönt greift ein Thema auf, das in meinen Augen aktueller ist denn je. In Zeiten, in denen Frauen immer gleichberechtigter werden/ sind, bleiben viele Männer auf der Strecke. Sie fühlen sich unzulänglich und minderwertig. Manche stürzen dann vielleicht auch so ab wie Marko.

Die Opfer–Täter–Sicht spielt hier für mich auch eine große Rolle. Ist Marko ein Täter weil sein Sohn ums Leben kommt oder ist er ein Opfer? Ein Opfer weil die Gesellschaft immer mehr von ihm verlangte? Er sollte/ wollte der perfekte Vater sein, der perfekte Mann, der perfekte Geldverdiener … doch nichts von dem ist ihm gelungen und alle schauen auf ihn herab …

Ein Buch das mich nachdenklich zurück lässt ... und eine Frage bleibt ... sind wir nicht alle täglich Opfer und Täter zugleich?





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