Cover des Buches Das Zigarettenmädchen (ISBN: 9783959880046)
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Rezension zu Das Zigarettenmädchen von Ratih Kumala

Spannende und anrührende Zeitgeschichte aus einem anderen Kulturkreis

von Joachim_Tiele vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Hinreißend

Rezension

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Joachim_Tielevor 9 Jahren

Rauchen beflügelt die Gedanken...

…und wer es nicht glauben will, lese diesen Roman. Ich verschieße mein Pulver nicht zu früh, wenn ich meine Rezension damit beginne, dass er einer der schönsten Romane ist, die ich seit langem gelesen habe. Nicht der beste oder anspruchsvollste, den ich je gelesen hätte, aber doch: er ist schön, gut und anspruchsvoll. Dennoch liest er sich leicht und ist auch gut verständlich, sobald man sich an die ungewohnten Namen und ihre Varianten gewöhnt hat und sie auseinanderhalten kann. Es ist bei einigen der Namen so ähnlich, als würde in einem deutschen Roman eine Person als „Johannes“ eingeführt, später in einem Dialog als „Hans“ angesprochen und noch später jemand von ihm als „Hänschen“ sprechen. Bei manchen der Figuren hier muss man vielleicht mal etwas zurückblättern, um den Überblick nicht zu verlieren, aber es lohnt sich.

Erzählt wird die Geschichte Indonesiens seit der Vertreibung der holländischen Kolonialherren an Hand der Geschichte verschiedener Zigarettenmarken und insbesondere der zweier Familien von Zigarettenherstellern, die über einige Jahrzehnte hinweg zusammenhängt, ohne dass dies allen Familienmitgliedern klar ist, ein Familiengeheimnis, sozusagen. Dass es ein Geheimnis gibt und dass man gut daran tut, es aufzuklären zu versuchen, wird den erwachsenen Söhnen und letzten Nachfahren einer dieser Familien bewusst, als ihr Vater dem Lebensende entgegengeht und immer wieder einen Frauennamen erwähnt, der bei ihrer Mutter starke Eifersuchtsgefühle auslöst. Dass der Vater mit dieser Frau noch irgendetwas offen hat, das er vor seinem Tod noch bereinigen möchte, ist den Söhnen und letztlich auch seiner Frau klar.

Die Aufklärung dieses Geheimnisses beginnt als eine Art Roadmovie dreier Brüder, das aber auch einige Flugreisen umfasst, im Rückblick, um die Beziehungen der Brüder untereinander und zu ihrem Vater zu verdeutlichen, teilweise auch außerhalb Indonesiens stattfindet, das sich aber langsam der Stadt annähert, in der die Herkunft dieser Unbekannten vermutet wird. Die ersten beiden Kapitel könnten auf manche Leser etwas „klamaukig“ wirken, wechseln auch etwas unmotiviert zwischen der ersten und der dritten Person als Erzählperspektive, aber das mag den Besonderheiten des indonesischen Buchmarktes geschuldet sein, in dem, wie man hört und liest, anspruchsvolle Belletristik nicht unbedingt einen leichten Stand zu haben scheint. Aber spätestens ab Kapitel drei erweist sich die Autorin als große Erzählerin, die weite Bögen genauso spannen kann, wie berückende und bedrückende Einzelheiten beschreiben.

Obwohl die Geschichte auf einen großen persönlichen wie geschäftlichen Verrat hinausläuft, gibt es keinen eindeutig „Bösen“. Die Verstrickungen der Beteiligten in die historischen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse des Landes werden so plausibel und nachvollziehbar beschrieben, dass individuelle Verurteilungen gar nicht erst entstehen. Wunderbar beschrieben sind insbesondere die auf Liebe beruhenden Beziehungen der meisten der Beteiligten, seien diese in der Tradition des Landes und seiner Kultur verwurzelt oder, insbesondere die von Vätern zu ihren Töchtern, von dieser auf eine angenehme und verständnisvolle Weise abweichend. Im Rahmen der aktuellen Islamdebatten wird ja, eher selten, auch immer wieder mal darauf hingewiesen, dass es in Indonesien einen liberalen, fast aufgeklärten Islam gibt. Hier wird er beschrieben und nachvollziehbar gemacht.

Der Roman spielt nicht mit der Gefühlsklaviatur der Leser, sondern beschreibt Gefühle als etwas, was man hat wie Hunger oder Durst. Gerade dadurch ist ihre Darstellung realistisch und kann auch bei Männern in die Nähe der einen oder anderen Träne führen, der man(n) sich nicht zu schämen braucht. Für unseren Kulturkreis inzwischen ungewöhnlich geworden ist die Beschreibung des Rauchens als positive sinnliche und kommunikative Erfahrung. Damit bringt der Roman die Erinnerung daran zurück, dass es eher der Tabak als (im weitesten Sinne) Kulturpflanze ist, der Flügel verleiht, als das ungesunde Kaltgetränk, das seit einigen Jahren hier im Westen behauptet, dies zu tun.

Jedem, der an Literatur über unseren engeren Kulturkreis hinaus interessiert ist, uneingeschränkt zu empfehlen.

Joachim Tiele

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