Cover des Buches Das zweite Königreich (ISBN: 9783404269662)
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Rezension zu Das zweite Königreich von Rebecca Gablé

Wer war William?

von Abbie vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Die Lebensgeschichte eines Engländers, der nach der Eroberung durch William I. zwischen zwei Fronten gerät, fesselnd erzählt

Rezension

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Abbievor 8 Jahren
Will man die Zeit der Eroberung Englands durch die Normannen beschreiben, muss man das Geschehen von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten. Das tut Rebecca Gablé in ihrem Roman "Das zweite Königreich", in dem sie die Geschichte des jungen Angelsachsen Cædmon erzählt, der als Sohn eines englischen Vaters und einer normannischen Mutter Kind zweier Welten ist. In die seines Vaters wird er hineingeboren; er wächst in Helmsby, einer Hundertschaft in East Anglia auf.
Die Welt seiner Mutter lernt er erst mit vierzehn Jahren gezwungener Maßen kennen: Als er bei einem Überfall dänischer Piraten angeschossen wird und fortan hinkt, schickt sein Vater ihn mit dem berüchtigten Harold Godwinson in die Normandie zu Herzog William. Und Harold lässt ihn doch glatt dort, verbannt ihn für zwei Jahre in die Fremde und ermöglicht ihm so, eine ganze Reihe neuer Bekanntschaften zu machen. Die Welt der Normannen bestimmt Cædmons weiteres Leben und die Zukunft seiner Familie, denn nach der Eroberung Englands wird er als Williams Mund und Ohr zum Mittler zwischen den zwei Welten, in denen er lebt.

Ein weiterer, vielleicht nicht ganz so offensichtlicher Blickwinkel ist der dänische, hier vertreten durch Cædmons Schwager Erik, jenen Piraten, dem er sein Hinken zu verdanken hat, und der noch teuer für den Überfall auf Helmsby bezahlt. Die Dänen sind ein wichtiger Bestandteil englischer Kultur, und deshalb ist auch ihre Sicht auf den Eroberer nicht unwichtig.

Herzog William, später König William, ist, denke ich, einer der bekanntesten englischen Monarchen überhaupt, aber nicht vielleicht wegen seiner Sanftmut und Großzügigkeit, sondern weil er bereit war, hart durchzugreifen, wenn es erforderlich war. Zu hart, meiner Meinung nach. Aber seine Härte und Erbarmungslosigkeit hielten William nicht nur am Leben sondern auch auf seinem Thron.
Im Roman dreht es sich im Grunde die ganze Zeit um den Widerstand, der William entgegenschlägt, und den gab es nicht ohne Grund. Die Engländer wollten sich ihr Land nicht wegnehmen, seine Barone und Söhne sich nicht in ihrer Macht einschränken lassen. Gute Gründe, aber auch William hatte gute Gründe für seine Entscheidungen. Und vor allem hat er am wenigsten Skrupel und das Recht des Königs auf seiner Seite.
Rebecca Gablé zeigt unterschiedliche Seiten an William auf. Mal bemitleidet man ihn, ist verwundert über die plötzliche Anwandlung von Menschlichkeit, die ihn da doch tatsächlich dann und wann überkommt, aber meistens möchte man reinschlagen...
Hinsichtlich seiner englischen Untertanen verbockt er Unmengen- und Cædmon darf dann seinen Unmut ausbaden, Tiraden über sich ergehen lassen, wenn er an die Vernunft seines Königs appelliert. Cædmon hat die Aufgabe, Normannen und Engländer einander näher zu bringen- theoretisch. Praktisch sieht das Ganze so aus, dass er, bei den gewaltsamen Versuchen der Normannen, die Engländer sich anzupassen, nur versuchen kann, den Schaden so gering wie möglich zu halten. Und zum Dank für seine Mühen zweifelt William an seiner Ergebenheit und zeigt sich ganz und gar undankbar.

Der Grund, weshalb mir dieses Buch so gut gefallen hat, ist, dass so viel passiert, dass es sehr lebendig und echt wirkt, eben wie ein richtiges Leben, das man auch nicht auf den ersten Blick durchschauen kann. Man muss das Ganze gliedern und sich länger damit beschäftigen, um alle Zusammenhänge zu erkennen, und das macht es so spannend, diesen Roman zu lesen. Man kann ihn einfach so verschlingen, man kann das Ganze aber auch langsamer angehen und versuchen, alles Schritt für schritt zu verstehen. Bei der Anzahl an Figuren (es sind knapp 80, Nebenfiguren alle mitgerechnet), hat das Werk schon fast epische Ausmaße.

Ein weiterer Grund ist der Protagonist. Cædmon ist einer meiner liebsten Gablé-Helden, was schlichtweg an seinem Charakter liegt, und daran, wie er sich im Verlauf der Geschichte entwickelt. Zu Beginn ist er ein pubertär-desorientierter Junge, der schier vor Selbstmitleid über sein lahmes Bein vergeht, sich in seine Wut gegen den Piraten, der auf ihn geschossen hat, hineinsteigert, bis er erfährt, wie es diesem Piraten, einem Jungen, nur wenig älter als Cædmon selbst, in den Händen seines Vaters ergeht.
Er ist verzweifelt, als sein Vater ihn fortschickt, glaubt, aufgrund seiner Behinderung minderwertig zu sein und macht in der Normandie und auf dem Weg dorthin einige scheußliche Erfahrungen, aber ebenso einige, die er nicht missen will. Er lernt seinen zukünftigen besten Freund Etienne kennen, der dann ausgerechnet das Mädchen heiratet, in das Cædmon sich auf den ersten Blick verliebt hat. Eine ziemlich unglückliche Fügung des Schicksals, zumal seine Zuneigung erwidert wird.
Über die Jahre macht Cædmon sich. Er verliert sein Hinken, wird ein ziemlich guter Soldat und hat sogar das Ohr des Königs. Als Thane of Helmsby ist er immer einflussreich genug, um kein Niemand zu sein, und William vertraut ihm genug, um ihm seine Söhne anzuvertrauen, die er in englischer Sprache, Geschichte und Kultur unterrichtet.
Cædmon hat Prinzipien und setzt die auch notfalls gegen den König durch. Er schwört, ihn bei allem zu unterstützen "was recht ist", denn er ist nicht Mund und Ohr Williams geworden, um ihm dabei zu helfen, das englische Volk zu knechten. Er ist loyal, aber nicht blind. Und zwischendurch zweifelt er an der Richtigkeit seiner Entscheidungen, manchmal hat er auch richtige Durchhänger. Das macht ihn sehr menschlich. Ein alles in allem sehr sympathischer Mensch, wenn auch hin und wieder mit ein paar Ecken und Kanten.

Der nächste Grund ist, dass ich auch hier wieder ganz im Geschehen war. Ich denke, wenn man wirklich mit den Figuren in einem Roman mitfühlt und sich mit ihnen identifiziert, kann man wirklich von einem guten Buch sprechen. Eine meiner Lieblingsfiguren war Etienne (obwohl er eine ziemlich beschränkte Meinung über Frauen hat, das verzeihe ich ihm nicht), und eine der schlimmsten Szenen war für mich die, in der er Cædmon bittet, ihn zu töten und damit vor einem sehr viel grausigerem und schmerzvollerem Ende zu bewahren.
Erst, nachdem ich diese Szene einigermaßen verdaut hatte, fing ich an, darüber nachzudenken, warum Rebecca Gablé Etienne hatte sterben lassen. Die Antwort war ziemlich eindeutig: Er steht zwischen Cædmon und Aliesa, seiner Frau, die sich lieben, wie ein Mensch wie Etienne es vermutlich nie verstehen könnte. Wenn die Geschichte also in dieser Hinsicht eine glückliche Wendung nehmen soll, dann muss er aus dem Weg. Eine Scheidung ist in diesem Fall ebenso unrealistisch wie unmöglich; es gibt also nur einen Weg. Etienne muss sterben. Eine rein logische und konsequente Überlegung. Erschüttert hat es mich trotzdem.

Aus den oben genannten Gründen gebe ich fünf Sterne. Ich finde das Buch einfach klasse, auch, wenn ich an einigen Stellen auf ein paar faktische Ungereimtheiten gestoßen bin, die die Handlung allerdings nicht weiter beeinflussen. Es ist eine schöne, wie ich finde, und vor allem authentische Geschichte. Authentisch deshalb, weil sie eben von so vielen Sichtweisen berichtet und handelt, und von den Konflikten, vor die man gestellt wird, wenn man sich nicht auf eine Seite stellen kann, ohne, dass die Hälfte fehlt.
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