Rezension zu "Federn lassen" von Regina Dürig
«Die Nacht zieht sich
an den Halmen
herauf es knackt es
ginstert jetzt hab
dich nicht so denkst
du ihr seid
schließlich
erwachsen zu zweit»
Dieses Buch ist ungewöhnlich – es ist eine Novelle – aber die Form ist außergewöhnlich. Ein stark reduzierter Text, aufs Wesentliche verdichtet, zwischen die Zeilen in Leerstellen das Unsagbare versteckt oder ganz unverhohlen offeriert. Eine Menge Übergriffigkeit – auch seitens der Eltern gegenüber Kindern, Übergriffigkeit von Männern bis hin zu maßlosen Grenzüberschreitungen. Schon die Buchform ist ungewöhnlich: ein langes, schlankes Format.
Episoden aus dem wahren Leben, emotionslos beschrieben, aber es trifft die Leser*innen in Mark und Bein. Schnappatmung, bevor man weiterliest. Und manchmal auch ein Kichern wenn man die Szene vor Augen hat: Da ist der Greis, ein ganz wichtiger Mensch, der im Schreibraum der Bibliothek die fünfunddreißigjährige Schreibende mit seinen Memoiren zuquatscht, ihr das Lesen aufdrängen will, nicht merkt, dass er stört, ihr einen Zettel zuschiebt mit Einladung zum Essen in irgendeinen Club mit fünf Männern. Nichts wäre aufregender für die Frau, als den König von Belutschistan kennenzulernen ...
Regina Dürig wählt ihre eigene Form, ihre eigene Sprache, reduziert und prägnant. Und das macht sie sehr gekonnt! Interpunktion findet man in diesem Buch nicht. Pausen, Leerstellen und Schweigen sind durch Absätze gesetzt, was dem Text einen lyrischen Anstrich gibt. Aber Lyrik ist es nicht, ich würde es auch nicht unbedingt als Novelle betrachten, sondern das Buch als Kurzgeschichten-Band beschreiben. Jede kleine Erzählung hat eine Überschrift und ist in sich geschlossen. Kurzgeschichten, über die es Redebedarf gibt. #metoo. Wer gern gute Literatur liest, findet mit dieser Novelle eine versteckte Perle.
Regina Dürig wurde 1982 in Mannheim geboren und lebt in Biel. Sie ist Autorin, Performerin und Dozentin für Literarisches Schreiben und hat Miniaturen, Kurzgeschichten, Hörspiele, Kinderbücher, Jugendromane und unsichere Übertragungen veröffentlicht. Für ihre Arbeiten hat Regina Dürig zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern.
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