Ernst Schubert, ehemaliger Professor für niedersächsische Landesgeschichte, räumt in diesem sehr umfangreichen Buch über die Mentalitätsgeschichte des Essens und Trinkens im Mittelalteralter mit vielen Klischees und unbewiesenen Behauptungen auf. So beispielsweise mit dem Breughel’schen Bild der „Völlerei“ und der „Trinkgelage“, die nicht selten durch den Niederländer in eindrucksvoller Art und Weise bildhaft in Szene gesetzt wurden. In der Realität fand solches Verhalten wenig Nachah-mung. Stattdessen war Unterernährung bis weit in das Hochmittelalter „normal“ – so jedenfalls doku-mentieren es Skelettfunde, die immer wieder gemacht werden, und unabhängig vom sozialen Stand dieses Manko nachweisen. Außerdem lassen sich auch in der zeitgenössischen Literatur bis weit in das Hochmittelalter Hungersnöte großen Ausmaßes nachweisen. Darüber hinaus war der Tisch des mittelalterlichen Menschen kärglich gedeckt: moderne „Kochbücher“ des Mittelalters suggerieren auch hier etwas völlig anderes. Der Regelfall war dünne Hafersuppe oder ein Kanten Brot. Rüben und an-deres Gemüse kamen hinzu, Fleisch war die Seltenheit. War der Tisch einmal üppiger gedeckt, so galt das lediglich für Feste – also Anlässe absoluter Herausgehobenheit und Seltenheit – und regelmäßig nur den oberen Gesellschaftsschichten zugänglich. Eine Verfeinerung der Kochkunst brachte erst im Hochmittelalter – und freilich auch nur dem Adel zugänglich – der Handel mit Salz und Gewürzen. Für den Bürger und die Unterschicht zu völlig unerschwinglichen Preisen. Dass zum Teil wucherartige Verhältnisse existierten, zeigt die seit dem Ende des Mittelalters einsetzende Polizeigesetzbarkeit, die gegen Wucher und den unfairen Preis vorging, ausgehend von der kirchlichen Idee des „gerechten Preises“, der auch in der damaligen Rechtsliteratur viel diskutiert wurde. Dass Regelungsbedarf über-haupt bestand, beweist im Umkehrschluss eine in völliger Schieflage befindliche Preisbildung bei Lebensmitteln. Auch das Trinken war so eine Sache, die überhaupt nicht den Klischees entsprach: Bier und Wein waren dem normalen Volk nicht zugänglich. Wein war auch nicht der Qualitätswein, den man heute kennt, sondern vielmehr Gepanschtes. Lediglich reiche Abteien oder Klöster besaßen einen Weinkeller, der hier und da mal einen guten Tropfen enthielt, allerdings meist nur durch Schenkung oder Erbschaft erlangt, also dem freien Markt nicht zugänglich. Trinkwasser war tabu – Brauch- und Grundwasser speisten sich aus der gleichen Quelle, Fäkalschlamm wurde ebenfalls in die gleiche Quelle geleitet – Polizeiordnungen des ausgehenden 14. Jahrhunderts normieren wiederholt das Ver-bot des Einleitens von Schlachtabfällen und Tierfäkalien. Wasser abkochen war noch unbekannt.
.
Ernst Schubert entmystifiziert also erfolgreich durch eine unbändige Detailfülle (fast) alle Mythen des Essens und Trinkens im Mittelalter. Zurück bleibt ein objektives, von allem Kitsch und aller Romantik befreites Bild von einer Epoche, deren Mentalitätsgeschichte man sich sehr gut über Tischsitten, Es-sensgewohnheiten und Trinkrituale nähern kann.
Rezension zu "Essen und Trinken im Mittelalter" von Ernst Schubert