Rezension zu "Aenne und ihre Brüder" von Reinhold Beckmann
Aenne, Reinhold Beckmanns Mutter, hat in ihrer Kindheit und Jugend viele Schicksalsschläge ertragen müssen und alle waren sie direkt oder indirekt mit den beiden Weltkriegen verbunden. Die Mutter stirbt als sie ein Baby ist an den Folgen der Tuberkulose, die der Vater und der Bruder aus den Gräben des 1.Weltkriegs mitgebracht haben und die unmittelbar Aennes Onkel, wenige Jahre später den entkräfteten und ausgezehrten Vater das Leben kostet. Aenne und die drei älteren Brüder werden sowie eine Halbschwester, die der Vater selbst nicht mehr kennen lernen soll, werden nun von der Stiefmutter streng und konsequent erzogen. Nicht viel später gesellt sich als "Überraschungsbaby" der jüngste Bruder hinzu. Vater ist der angestellte Schuster, der die Werkstatt des Vaters nach dessen Tod weiterführt. Vielleicht hilft es, dass die Familie in einem sehr katholischen Städtchen aufwächst, denn in meinen Augen ist es nicht selbstverständlich, dass die beiden Stiefeltern 6 Kinder, darunter vier nicht-leibliche großziehen - auch wenn es dann doch kleine Unterschiede gibt. Die Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus wird auch immer wieder (auch differenziert) thematisiert, genauso wie die Euthanasie an "lebensunwertem Leben", da viele der großen Familien beeinträchtige Angehörige, v.a. Kinder haben. Darüberhinaus ist es aber eigentlich wirklich der Blick der Mutter, also der Blick aus dem Kleinen und zeigt so, wie zuerst die Ideologie die Bevölkerung durchsetzt und langsamer das Begreifen der ländlichen Bevölkerung in Bezug auf die Verbrechen der Nationalsozialisten Einzug erhält. Einiges bleibt vage, wie die Verbrechen in den Konzentrationslagern, anderes wird sehr konkret, wie die Namen der Gefallenen Söhne, die in der Messe verlesen werden.
Dadurch das Aennas Brüder unterschiedliche alt sind, erzählen ihre Geschichten verschiedene Schicksale nach, die es hunderttausendfach auf den Schlachtfeldern des 2.Weltkriegs gab und die man trotzdem immer wieder erzählen muss: Zum Beispiel der älteste Bruder, der eigentlich den ganzen Weltkrieg als Soldat dient und der merkt wie ihm wichtige Jahre durch die Finger rinnen oder der jüngste der als Minderjähriger Teil des letzten Aufbegehrens Hitler-Deutschlands fällt. Die Geschichte ist im Wechsel zwischen Feldpostbriefen, persönlicher Geschichte und den tatsächlichen historischen Ereignissen erzählt. Die Greuel der Schlachtfelder erfährt man aus den Feldpostbriefen selbst nämlich nicht, die zunehmend kürzer werden, auch das Befinden wird zwar am Ende deutlicher, aber mit nur wenigen Worten abgehandelt. Außerdem verleihen Fotos den beschriebenen Schicksalen im wahrsten Sinne des Wortes ein Gesicht.
Vieles, was in diesem Buch erzählt wird, ist nicht unbedingt neu. Beispielsweise der Einzug der Amerikaner, der entspricht ziemlich genau dem, was meine Oma mir immer erzählt hat: Dass man noch nie einen Schwarzen gesehen hätte, dass die US-Soldaten - v.a. zu den Kindern - super nett waren und ihnen Kaugummi und Schokolade geschenkt hätten. Diese Gemeinsamkeiten zu entdecken fand ich sehr interessant.
Auch das Ende, der Tod aller vier Brüder, steht von Anfang an fest. Und dennoch hofft man irgendwie, dass es anders ausgeht, dass wenigstens ein Bruder überlebt - vor allem wenn umso deutlicher wird, wie sinnlos das weiterkämpfen ist.
Und es ist wichtig, dass Bücher zu diesem Thema immer wieder geschrieben werden, damit es präsent bleibt, gerade auch aus dieser Perspektive: Denn Aenna erlebt den Krieg nicht im Bombenhagel einer deutschen Großstadt, hat keine jüdischen Nachbarn die deportiert werden usw., sondern befindet sich stets eigentlich noch in relativer Sicherheit, aber in permanenter großer Sorge um ihre Brüder, eine unerträgliche Vorstellung immer wochenlang warten zu müssen, ob wieder ein Brief die Heimat erreicht und sich am Ende eingestehen zu müssen, dass in manchen Fällen vielleicht niemals Gewissheit über den Verbleib zu erhalten. Der zweite Weltkrieg hat in dieser Familie allen Kinder einer Familie, die in ihm kämpfen mussten, das Leben gekostet. Und vielleicht wird vor allem "im Kleinen" deutlich, was für ein Irrsinn in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts statt gefunden hat, weil es so besser begreifbar ist.
Lediglich mit dem Schreibstil wurde ich stellenweise nicht ganz warm und ich hab mir mehr Glanz von Aenna im Buch erwartet. Besonders ein Foto (auf dem Feld bei der Arbeit) zeigt eine starke, interessante Frau, aber auch die Ankündigung auf dem Klappentext hat da mehr Erwartungen geweckt. Das fand ich schade, deshalb ein Stern weniger ...