Richard F. Hamilton

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Alle Bücher von Richard F. Hamilton

Cover des Buches The Origins of World War I (ISBN: 9780521817356)

The Origins of World War I

(1)
Erschienen am 24.02.2003
Cover des Buches War Planning 1914 (ISBN: 9780521110969)

War Planning 1914

(1)
Erschienen am 30.11.2009

Neue Rezensionen zu Richard F. Hamilton

Cover des Buches The Origins of World War I (ISBN: 9780521817356)
A

Rezension zu "The Origins of World War I" von Richard F. Hamilton

Andreas_Oberender
Wie und warum kam es zum Ersten Weltkrieg?

Angesichts der vielen diesjährigen Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg gerät leicht in Vergessenheit, dass bereits vor zehn Jahren zahlreiche Bücher über die Vorgeschichte und den Verlauf des Krieges erschienen sind. Zu den wichtigen und noch immer lesenswerten Neuerscheinungen, die das 90jährige Jubiläum des Kriegsausbruchs hervorgebracht hat, gehört der von Richard Hamilton und Holger Herwig herausgegebene Sammelband "The Origins of World War I". Der Band geht zurück auf eine wissenschaftliche Tagung, die 1999 an der Ohio State University stattfand. Die Teilnehmer und Beiträger stammen allesamt aus der angelsächsischen Welt und dürften in Deutschland weitgehend unbekannt sein. Das gilt allerdings nicht für den deutschstämmigen Militärhistoriker Holger Herwig, der seit langem in Kanada lebt und forscht. Herwig ist einer der renommiertesten Experten für die Vorgeschichte und Geschichte des Ersten Weltkrieges. Aus seiner Feder stammen einige der interessantesten und gehaltvollsten Beiträge des Sammelbandes. Der Band hebt sich positiv von vergleichbaren Publikationen ab. Hamilton und Herwig geben Fragestellungen vor, die für alle Autoren verbindlich sind. Dadurch gewinnt das Buch eine innere Kohärenz, die man in Sammelbänden allzu oft vermisst. Vorbildlich sind auch die beiden Zusammenfassungen, in denen die Herausgeber alle Beiträge resümieren und unter dem Blickwinkel der zentralen Fragestellungen auswerten.

Elf der fünfzehn Beiträge sind einzelnen Staaten gewidmet, die am Ersten Weltkrieg teilnahmen. Ziel des Sammelbandes ist es, in einem systematischen Vergleich herauszuarbeiten, aus welchen Gründen und mit welchen Zielen europäische und außereuropäische Staaten in den Krieg eintraten. Die ersten Länderkapitel sind Serbien, Österreich-Ungarn, Deutschland, Russland, Frankreich und Großbritannien gewidmet. Darauf folgen Kapitel über Japan, das Osmanische Reich, Italien, die Balkanstaaten und Griechenland sowie die USA. Es lassen sich zwei Gruppen von Kriegsteilnehmern unterscheiden: Jene Mächte, die bereits im August 1914 in den Krieg eintraten, und solche Staaten, die sich erst später auf die Seite der Mittelmächte oder der Entente schlugen. Zur zweiten Gruppe gehören beispielsweise Italien, Bulgarien und Rumänien, die sich ihre Kriegsteilnahme von ihren jeweiligen Verbündeten "abkaufen" ließen (Inaussichtstellung von Gebietsgewinnen). Alle Länderkapitel orientieren sich an den Fragen, die die Herausgeber einleitend formulieren: Wer waren die Entscheidungsträger, die im Juli/August 1914 oder zu einem späteren Zeitpunkt den Entschluss zum Krieg fassten? Welche kollektiven und individuellen Erfahrungen und Prägungen ("Mentalitäten") waren dabei von Bedeutung? In welche politischen Strukturen und Mechanismen waren die Entscheidungsprozesse eingebettet? Welche Gründe führten die Entscheidungsträger an, um den Kriegseintritt ihres Landes zu rechtfertigen? Was hofften die Politiker und Militärs durch die Teilnahme am Krieg für ihr Land zu erreichen?

Zu Beginn (Kap. 1) betonen Hamilton und Herwig, dass der Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht angemessen erklärt werden kann, wenn Entscheidungsträger und Entscheidungsprozesse ausgeblendet werden. Die beiden Herausgeber wenden sich gegen Erklärungsmodelle, die nur abstrakte Faktoren und anonyme Kräfte in den Blick nehmen. Sie sind davon überzeugt, dass die rationalen Überlegungen und Entscheidungen konkreter Akteure für den Kriegseintritt aller Kombattanten verantwortlich waren. Mit anderen Worten: Hamilton und Herwig rücken die "human agency" in den Vordergrund, während strukturellen Faktoren eine geringere Bedeutung beigemessen wird. Hamilton und Herwig sind skeptisch, dass strukturelle Faktoren ausreichen, um den Kriegsausbruch zu erklären. Nacheinander setzen sie sich mit diesen Faktoren auseinander, die in vielen (älteren) Darstellungen zur Vorgeschichte und zum Ausbruch des Weltkrieges angeführt werden: Bündnissysteme; Nationalismus; Sozialdarwinismus; Imperialismus; Militarismus und Wettrüsten; Medien und öffentliche Meinung. Keiner dieser Faktoren, so die Herausgeber, könne für sich genommen und unter Ausblendung der Entscheidungsprozesse im Juli 1914 den Weg in den Krieg erklären. Hamilton und Herwig wenden sich auch gegen die These, bestimmte Staaten seien nur in den Krieg eingetreten, um von ungelösten inneren Problemen abzulenken. Vehement kritisieren sie ferner das Diktum von Lloyd George, alle Staaten seien ungewollt in den Krieg "hineingeschlittert". Die Annahme, fünf Großmächte seien gleichzeitig in einen Krieg geschlittert, widerspreche dem gesunden Menschenverstand und auch der Quellenlage. Kein Staat, keine Regierung schlittere in einen Krieg hinein; ein Krieg werde immer bewusst beschlossen.

Im zweiten Kapitel vermittelt Hamilton einen Überblick zur Geschichte des europäischen Staatensystems seit dem Wiener Kongress. Er arbeitet heraus, wie das Konzert der Mächte große Kriege lange Zeit erfolgreich verhinderte. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts avancierte der Balkan zu einer Krisenregion, die für wachsende Spannungen unter den Großmächten sorgte. Die Gefahr eines Konflikts unter Beteiligung mehrerer Mächte nahm zu. Im Folgenden sollen hier nur die Kapitel über Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich, Russland, Frankreich und Großbritannien ausgewertet werden. Die fünf Autoren kommen zu Ergebnissen, die sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: Verlust- und Abstiegsängste hätten die Führungen der Großmächte dazu bewogen, in den Krieg einzutreten. Außerdem zeigen alle Autoren, dass die Regierungen der fünf Mächte im Juli/August 1914 autonom handelten und entschieden, ohne dem Druck gesellschaftlicher Kräfte ausgesetzt zu sein. Keine Regierung wurde von der Bevölkerung oder einflussreichen Interessengruppen in den Krieg getrieben. Kleine Zirkel von Politikern, Diplomaten und Militärs trafen die verhängnisvollen Entscheidungen. Graydon Tunstall (Österreich-Ungarn) streicht heraus, dass sich die Wiener Regierung als erste bewusst für einen Krieg gegen Serbien entschied. Andere Optionen seien nicht in Betracht gezogen, Verhandlungs- und Vermittlungsvorschläge seien konsequent abgelehnt worden. Mit Rückendeckung Deutschlands habe Österreich-Ungarn einen lokal begrenzten Krieg führen und auf diese Weise seinen prekär gewordenen Großmachtstatus bekräftigen wollen. Das Risiko russischen Eingreifens sei von Wien leichtfertig in Kauf genommen worden.

Holger Herwig (Deutsches Reich) stellt in seinem Beitrag klar, dass von einem deutschen Griff nach der Weltmacht, von dem Fritz Fischer in den 1960er Jahren fabulierte, keine Rede sein kann. Es habe keinerlei ernstzunehmende Vorbereitungen für ein solch wahnwitziges Vorhaben gegeben. Herwig diagnostiziert bei den Entscheidungsträgern in Berlin Pessimismus und Abstiegsangst. Sie hätten einen Krieg gegen Russland und Frankreich mittelfristig für unvermeidlich gehalten und daher bewusst auf die militärische Option gesetzt, um Deutschlands vermeintlich bedrohte Stellung zu verteidigen. Abschreckung durch Rüstung sei aus Sicht der Reichsleitung nicht ausreichend gewesen. Österreich-Ungarn sei zu energischem Vorgehen ermutigt worden, um wachsenden Zweifeln an seiner Handlungs- und Überlebensfähigkeit als Großmacht entgegenzutreten. Vernichtend fällt Herwigs Urteil über Reichskanzler Bethmann Hollweg und dessen "Strategie des kalkulierten Risikos" aus. Der Plan, die Entente-Mächte durch die Ablehnung von Vermittlungsvorschlägen und den demonstrativen Schulterschluss mit Wien zu verunsichern und zum "Einknicken" zu bringen, erwies sich als katastrophale Fehlkalkulation. Der Kanzler glaubte, Russland würde sich wie schon während der Bosnischen Annexionskrise (1908/09) durch eine verschleierte Kriegsdrohung aus Berlin vom Eingreifen auf dem Balkan abhalten lassen. Erst in den letzten Julitagen dämmerte Bethmann Hollweg, dass seine riskante Bluff-Strategie gescheitert war. Der Kanzler resignierte und fügte sich in das Unvermeidliche ("Der Stein ist ins Rollen gekommen, und niemand kann ihn mehr aufhalten"). Der Krieg kam ihm, wie auch den Militärs, freilich nicht ungelegen, schien es ihm doch dringend geboten, Frankreich und Russland nachhaltig zu schwächen, bevor beide Deutschland militärisch überflügelten.

Die Kapitel über Russland (David Alan Rich) und Frankreich (Eugenia Kiesling) spiegeln einen Forschungsstand wider, der nicht mehr ganz aktuell ist. Jeder Leser sollte unbedingt die neueren Arbeiten von Sean McMeekin und Stefan Schmidt als ergänzende Lektüre heranziehen. Rich vertritt die Ansicht, Russland habe Serbien nicht im Stich lassen wollen, weil in diesem Fall sein wichtigster Verbündeter auf dem Balkan verlorengegangen wäre. Eine derart gravierende Minderung des Einflusses auf dem Balkan sei für die Petersburger Führung inakzeptabel gewesen. Rich und Kiesling gehen auf die militärische Kooperation zwischen Russland und Frankreich ein. Frankreich unterstützte die russische Rüstung durch umfangreiche Kredite; außerdem wurden die Pläne beider Armeen für den Kriegsfall koordiniert. Sowohl in Frankreich als auch in Russland setzte in den letzten Jahren vor dem Krieg ein strategisches Umdenken ein: Ein deutscher Angriff sollte nicht mehr defensiv, sondern durch eigene machtvolle Offensiven abgewehrt werden. Der Krieg sollte auf deutschen Boden getragen werden. Beide Autoren sehen allerdings nirgends Anzeichen für aggressive Bestrebungen der beiden Verbündeten. Kriegspläne gegen Deutschland hegten sie nicht; sie wollten nicht als erste losschlagen. Frankreich, so Kiesling, habe sich für den Kriegseintritt entschieden, weil Russland ohne französischen Beistand höchstwahrscheinlich besiegt worden und als Verbündeter verlorengegangen wäre. Einen künftigen Krieg gegen Deutschland hätte Frankreich allein nicht durchstehen können, so die Angst die Pariser Regierung. Frankreich sei in den Krieg eingetreten, um seinen wichtigsten Verbündeten nicht zu verlieren.

Was Großbritannien angeht, so widerspricht Paul Harris den Spekulationen von Niall Ferguson und John Charmley, das Inselkönigreich hätte sich aus einem Kontinentalkrieg heraushalten können, ohne von einem deutschen Sieg ernsthafte Nachteile befürchten zu müssen. Anders als in Wien, Berlin und Petersburg gab es in der Londoner Führung eine breite Mehrheit, die sich bis Ende Juli gegen den Kriegseintritt aussprach. Außenminister Grey handelte lange inkonsequent und ineffektiv, ehe er sich gegen Ende der Juli-Krise zu der Position durchrang, Großbritannien müsse Belgien und Frankreich beistehen, um eine deutsche Hegemonie auf dem Kontinent zu verhindern. Grey überzeugte die Skeptiker und Kriegsgegner mit dem Verweis auf ein klassisches Motiv der britischen Außenpolitik: Im Interesse Großbritanniens dürfe keine Macht in Europa zu dominierender Stellung gelangen. Dies, so Harris, sei ausschlaggebend gewesen, weniger die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Großbritannien und Deutschland oder das Flottenwettrüsten, das bereits 1912 zugunsten Großbritanniens entschieden worden sei. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die britische Militärführung in den Julitagen aus allen Beratungen herausgehalten wurde. Auch darin unterscheidet sich der Entscheidungsprozess in London von dem in den vier anderen Hauptstädten.

Auch wenn sich der Sammelband "The Origins of World War I" nicht mehr ganz auf der Höhe des Forschungsstandes bewegt, bietet er doch immer noch viele bedenkenswerte und diskussionswürdige Interpretationsangebote. Einleuchtend ist der übergreifende Erklärungsansatz für den Ausbruch des Krieges: Alle fünf Großmächte wurden in der einen oder anderen Form von Verlust- und Abstiegsängsten geplagt. Ein siegreicher Krieg schien das einzige Mittel zu sein, den Verlust von Bündnispartnern und/oder den Verlust des eigenen Großmachtstatus abzuwenden. Eroberungs- und Expansionsgelüste spielten keine Rolle in den Entscheidungsprozessen, die zum Krieg führten. Hat man die einzelnen Beiträge gelesen, so erkennt man, dass der von Hamilton und Herwig favorisierte akteursbezogene Ansatz etliche neuere Bücher stark beeinflusst hat, etwa Christopher Clarks "Schlafwandler" oder Jürgen Angelows Studie über die Juli-Krise. Von besonderem Wert ist die dem Band beigefügte detaillierte Chronologie der Ereignisse von Juni bis August 1914 (S. 507 bis 519).

Ein Hinweis zum Schluss: Unter dem Titel "Decisions for War" haben Hamilton und Herwig 2004 eine gekürzte Fassung des Sammelbandes herausgegeben, die für den universitären Lehrbetrieb gedacht ist. Es handelt sich also nicht um zwei inhaltlich verschiedene Bände, wie man zunächst annehmen könnte. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Mai 2014 bei Amazon gepostet)

Cover des Buches War Planning 1914 (ISBN: 9780521110969)
A

Rezension zu "War Planning 1914" von Richard F. Hamilton

Andreas_Oberender
Planungen für den großen Krieg

Der von Richard Hamilton und Holger Herwig herausgegebene Sammelband "War Planning 1914" ist gewissermaßen die Fortsetzung des Sammelbandes "The Origins of World War I", den beide Autoren 2003 herausgegeben haben. Ging es in dem älteren Band um die Frage, warum die europäischen Großmächte 1914 in den Krieg zogen, so steht in "War Planning 1914" die Frage im Vordergrund, welche militärischen Planungen die einzelnen Mächte für den Ernstfall trafen. Im einleitenden Kapitel gibt Hamilton zu bedenken, dass der Begriff "Kriegsplan" mit Vorsicht zu benutzen sei. Man dürfe sich Kriegspläne nicht als starr und statisch vorstellen. Die Kriegspläne der einzelnen Mächte hätten stets einen provisorischen Charakter besessen und seien regelmäßig überarbeitet worden, vor allem in Abhängigkeit von der sich verändernden politischen Großwetterlage in Europa. Hamilton weist außerdem darauf hin, dass Kriegsplanung theoretisch auch nichtmilitärische Aspekte einschließt, etwa finanzielle Vorbereitungen, die Umstellung der Wirtschaft auf Kriegsproduktion, die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung, den Ersatz von Arbeitskräften in Industrie und Landwirtschaft. Zu guter letzt stellt Hamilton klar: Nicht die Kriegspläne hätten im Sommer 1914 zum Ausbruch des Krieges geführt, sondern die Entscheidungen politischer Akteure. Hamilton wendet sich damit gegen die in der älteren Weltkriegsforschung gelegentlich anzutreffende These, ab einem bestimmten Zeitpunkt sei der Krieg unvermeidlich gewesen, weil sich die Politiker dem "eisernen Automatismus" der Aufmarschpläne nicht mehr hätten entziehen können ("War by timetable").

Hamilton und Herwig haben sechs Autoren aus den USA, Kanada und Großbritannien gewonnen, die sich allesamt durch profunde militärhistorische Sachkenntnis auszeichnen. Einige der Autoren lehren und forschen an Militärakademien. Der Sammelband profitiert nicht nur von der Expertise der Autoren, sondern auch von den verbindlichen Fragestellungen, die Hamilton und Herwig vorgegeben haben: Wie wurden die Kriegspläne entwickelt, und welche Rolle spielten dabei außen- und bündnispolitische Konstellationen? Wie war es bei den einzelnen Großmächten um die Zusammenarbeit zwischen Militärführung und ziviler Regierung bestellt? Inwieweit wurden bei der Kriegsplanung nichtmilitärische Aspekte berücksichtigt? Warum scheiterten im Sommer 1914 alle Kriegspläne? Die letzte Frage ist von besonderem Interesse, denn zum Entsetzen aller Politiker und Militärs bewährte sich kein einziger der aufwendig erstellten Kriegspläne in der Praxis. Weder die Mittelmächte noch die Entente-Mächte konnten mit ihren Kriegsplänen den gewünschten raschen Sieg herbeiführen. Die auf beiden Seiten herrschende Annahme, die Soldaten würden spätestens zu Weihnachten 1914 wieder zu Hause sein, erwies sich als Illusion. Auf einen langen Krieg, auf einen Abnutzungs- und Stellungskrieg war keiner der Kombattanten vorbereitet. Im Folgenden werden die sechs Kapitel über Österreich-Ungarn, Deutschland, Russland, Frankreich, Großbritannien und Italien kurz vorgestellt.

Wie Günther KRONENBITTER zeigt, musste die Donaumonarchie bei ihrer Kriegsplanung ein Höchstmaß an Flexibilität an den Tag legen, hatte sie es doch mit drei potentiellen Gegnern zu tun: Russland, Serbien und Italien. Im letzten Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde aus Sicht des Generalstabes ein Einfrontenkrieg gegen nur einen dieser Gegner immer unwahrscheinlicher. Folglich liefen alle Planungen auf einen Zweifrontenkrieg hinaus. Analog zum deutschen Schlieffen-Plan sollte dieser Zweifrontenkrieg in Gestalt von zwei zeitlich versetzten Einfrontenkriegen geführt werden. Der schwächere Gegner (Serbien) sollte zuerst besiegt werden, bevor - im Bündnis mit dem Deutschen Reich - der Schlag gegen Russland erfolgen sollte. Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf beging dabei den schweren Fehler, dass er die Erfolgsaussichten des Schlieffen-Plans nie kritisch hinterfragte. Die beiden Verbündeten überschätzten sowohl ihre eigene Schlagkraft als auch die des Partners. Konkrete Absprachen und Planungen für den Ernstfall gab es nicht; selbst ein gemeinsames Kommando für die Ostfront war nicht vorgesehen. Deshalb kam es im Sommer 1914 zum Debakel: Conrad war ganz auf den Krieg gegen Serbien fixiert, während sein deutscher Amtskollege Moltke forderte, dass Österreich-Ungarn das Gros seiner Truppen sofort gegen Russland ins Feld führe. Die verspätete Truppenverstärkung in Galizien verursachte die schweren Anfangsniederlagen der K.u.K.-Armee gegen Russland. Der Abzug von Truppen vom Balkan hatte zur Folge, dass der geplante rasche Sieg über Serbien ausblieb. Zum Jahresende 1914 hatte Österreich-Ungarn keines seiner militärischen Ziele erreicht.

In ihrem Beitrag über das Deutsche Reich bietet Annika MOMBAUER wenig Neues. Der Schlieffen-Plan ist nicht nur Historikern, sondern auch historisch interessierten Laien in Grundzügen vertraut. Schon unmittelbar nach der Reichsgründung 1871 stellte sich der deutsche Generalstab auf einen künftigen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland ein. Wollte der ältere Moltke den ersten Schlag im Osten führen, so liefen die Pläne Schlieffens darauf hinaus, zuerst Frankreich zu besiegen. Um den französischen Festungsgürtel zu umgehen, sollte der Vorstoß über Belgien und die Niederlande erfolgen. Der jüngere Moltke, Schlieffens Nachfolger, nahm einige Veränderungen an diesem Plan vor: Verzicht auf Invasion der Niederlande; "Handstreich" gegen die Festung Lüttich schon im Zuge der Mobilmachung, um den reibungslosen Durchmarsch der deutschen Truppen durch den beengten belgischen Raum zu gewährleisten. Planungen für einen Krieg nur gegen Russland, der sogenannte "Aufmarschplan Ost", wurden 1913 aufgegeben. Wie Mombauer abschließend zeigt, war das Scheitern des Schlieffen-Plans im Spätsommer 1914 weniger dem Abwehrkampf der französischen Armee als taktischen Fehlern auf deutscher Seite zuzuschreiben (Überdehnung des rechten Flügels; ungeplante Offensive auf dem linken Flügel, in Elsaß-Lothringen).

Bruce MENNING vergleicht Russland mit einem mittelmäßigen Schachspieler, der sich durch schlechte Eröffnungszüge um die Aussichten auf den Sieg bringt. Bis 1912 waren die Pläne des Zarenreiches für einen Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn defensiv angelegt. Lange ging der russische Generalstab von der Annahme aus, die Schlagkraft der Armee reiche nicht aus, um gleich zu Beginn des Krieges gegen beide Mittelmächte in die Offensive zu gehen. Der Krieg sollte nach dem Schema Defensive/Gegenoffensive geführt werden. Unter französischem Druck vollzog der Generalstab 1912 eine Kehrtwende. Da abzusehen war, dass der deutsche Erstschlag im Westen erfolgen würde, sollte Russland sofort in die Offensive gehen, um Frankreich zu entlasten. Im russischen Generalstab wurde allerdings keine Einigung erzielt, in welchem Abschnitt der russischen Westgrenze der Hauptschlag erfolgen sollte - im Nordwesten (gegen Ostpreußen), im Zentrum (Polnischer Bogen) oder im Südwesten (gegen Galizien). Die Kompromisslösung, die schließlich gefunden wurde, war mit erheblichen Risiken verbunden, die dann 1914 fast zwangsläufig zum Scheitern der russischen Strategie führten: Geplant wurden Offensiven sowohl gegen Ostpreußen als auch gegen Galizien, und zwar noch vor Abschluss der Mobilmachung. Das waren zwei verhängnisvolle Fehlentscheidungen. Die Offensiven erfolgten an zwei getrennten Fronten, die sich nicht gegenseitig unterstützen konnten, und der rasche Beginn der Offensiven noch vor Abschluss der Mobilmachung führte dazu, dass die russische Armee an keiner der beiden Fronten die nötige Schlagkraft besaß, um den Gegnern vernichtende Niederlagen beizubringen. Der Angriff auf Ostpreußen mündete in eine Katastrophe, und die Erfolge in Galizien reichten nicht aus, um Österreich-Ungarn entscheidend zu schwächen.

Zwischen 1871 und 1914 entwickelte der französische Generalstab nicht weniger als 17 Kriegspläne. Bis auf den letzten, Plan XVII, waren alle Pläne nach dem Schema Defensive/Gegenoffensive angelegt. Wie Robert DOUGHTY herausarbeitet, erfolgte 1911/12 unter dem ehrgeizigen Generalstabschef Joseph Joffre ein Umdenken. Joffre war ein Verfechter der "Offensive bis zum Äußersten" (offensive à outrance). Ein Defensivkrieg gegen Deutschland kam für ihn nicht in Frage. Die französische Armee sollte den erwarteten deutschen Angriff über Belgien nicht nur abwehren, sondern selbst sofort in die Offensive gehen, den Gegner zurückwerfen und den Krieg auf deutschen Boden tragen. Joffre unterschätzte jedoch die Wucht des deutschen Angriffes. Anstatt alle Truppen an der französisch-belgischen Grenze zu konzentrieren, wies Joffre in seinem Plan zwei Armeen die Aufgabe zu, eine Offensive gegen Elsaß-Lothringen zu unternehmen. Drei Armeen sollten sich den deutschen Streitkräften am östlichen Abschnitt der belgisch-französischen Grenze entgegenstellen. Diese Strategie führte im Sommer 1914 nicht zum Erfolg. Die Offensive gegen Elsaß-Lothringen scheiterte und führte nicht zu der geplanten Entlastung am belgischen Frontabschnitt. Die französische Offensive an der Grenze zu Belgien geriet ebenfalls zur Katastrophe. Erst nach der Marne-Schlacht kam der deutsche Vormarsch zu Erliegen. Das war aber nicht Joffres ursprünglichem Kriegsplan zu verdanken.

Was Großbritannien angeht, so kann von Kriegsplänen im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden, wie Keith NEILSON darlegt. Erst 1905 wurde ein Generalstab eingerichtet. Die Entente mit Frankreich (1904) und der kolonialpolitische Ausgleich mit dem Zarenreich (1907) waren keine formellen Allianzen. Weder gegenüber Frankreich noch gegenüber Russland war Großbritannien im Kriegsfall vertraglich zu militärischem Beistand verpflichtet. Die Marineführung lehnte die Teilnahme britischer Landstreitkräfte an einem Kontinentalkrieg strikt ab. Regierung und Armeeführung verständigten sich 1911 darauf, den Griff einer einzelnen Macht nach der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent nicht zuzulassen. Ob und wie Frankreich im Falle eines deutschen Angriffs unterstützt werden sollte, wo die britischen Truppen (British Expeditionary Force) eingesetzt werden sollten, all das blieb bis zum Sommer 1914 unklar. Ähnliche Unklarheit herrschte in den Planungen des italienischen Generalstabes. Als Mitglied des Dreibundes war Italien durchaus bereit, Deutschland und Österreich-Ungarn militärisch beizustehen, wie John GOOCH zeigt. Für diesen Beistand gab es mehrere Optionen, die aber allesamt riskant und/oder unpraktikabel waren: Verlegung italienischer Truppen an den Rhein; Angriff auf Frankreich über die Meeralpen; Landungsunternehmen im Rhone-Delta. Da Italien im August 1914 seine Neutralität erklärte, wurde die Frage, wie und wo es seine Verbündeten unterstützen sollte, obsolet.

Abschließend zieht Holger HERWIG eine Bilanz der sechs Länder-Kapitel. Er arbeitet dabei mehrere Leitmotive heraus, die für die Kriegsplanungen der sechs Mächte charakteristisch sind:

1. Nirgendwo gab es eine optimale Zusammenarbeit zwischen politischer und militärischer Führung. Um Kooperation und Kommunikation zwischen Zivilisten und Militärs war es schlecht bestellt. Die Generalstäbe konnten ihre Kriegsplanungen weitgehend unbeaufsichtigt vornehmen. Die Regierungen beschäftigten sich kaum mit der Arbeit der militärischen Experten. Kriegspläne wurden von den Zivilisten nicht diskutiert und kritisiert. Nur in Ausnahmefällen nahmen die Zivilisten militärisch relevante Weichenstellungen vor, etwa als die französische Regierung entschied, dass Frankreich nicht als erster die Neutralität Belgiens verletzen dürfe.

2. Obwohl viele Militärs (darunter Moltke und Joffre) insgeheim längst daran zweifelten, dass ein großer europäischer Krieg kurz sein werde, waren die Pläne aller Generalstäbe offensiv und auf frühe kriegsentscheidende Siege angelegt. Keine der Kontinentalmächte setzte auf eine reine Defensivstrategie. Es gab keine Alternativpläne für den Fall, sollte die Offensivstrategie scheitern, sollte sich der Krieg in die Länge ziehen. Zum Jahreswechsel 1914/15 herrschte in allen Generalstäben Ratlosigkeit.

3. Das Festhalten an der Illusion vom kurzen Krieg führte dazu, dass nichtmilitärische Kriegsvorbereitungen nahezu vollkommen vernachlässigt wurden. Finanzministerien, aber auch Unternehmer- und Bankenkreise wurden in die Kriegsplanungen nicht einbezogen. Die Militärs blendeten die finanziellen und wirtschaftlichen Dimensionen der Kriegsführung aus.

4. Auffällig ist, dass die Kontinentalmächte ihren Kriegsflotten keine nennenswerte Rolle in den Kriegsplanungen zuwiesen. Armee- und Marineführungen arbeiteten nur locker zusammen, wenn überhaupt. Der Unwille, die Flotte einzusetzen, ist besonders im Falle Deutschlands, Russlands und Österreich-Ungarns bemerkenswert, hatten doch diese drei Mächte ungeheure Summen für den Aufbau moderner Kriegsflotten aufgewendet. Die deutsche Hochseeflotte, aber auch Russlands Ostsee- und Schwarzmeerflotte blieben nach Kriegsausbruch in ihren Häfen. Die deutsche Marineleitung hatte keine Pläne für die Verwendung der Flotte. Zu Offensivoperationen gegen Großbritannien konnte sie sich nicht durchringen.

Im Sommer 1914 bewahrheitete sich das Diktum des älteren Moltke, ein Operationsplan funktioniere nur bis zur ersten Begegnung mit der Hauptstreitmacht des Gegners. Danach sei der weitere Kriegsverlauf offen. Ein Kriegsplan könne zwar günstige Ausgangsbedingungen für einen Sieg schaffen, nicht aber den Sieg garantieren. Der Sammelband "War Planning 1914" ist für all jene Leser interessant, die sich für die Tätigkeit von Generalstäben und die Anfangsphase des Ersten Weltkrieges interessieren. Es hätte nicht geschadet, Beiträge über Serbien und das Osmanische Reich aufzunehmen. Auch diese beiden Staaten waren so eng in das europäische Mächtesystem und seine Konflikte eingebunden, dass sie Pläne für den Fall einer Verwicklung in einen Krieg der Großmächte ausgearbeitet haben müssen. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Mai 2015 bei Amazon gepostet)

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