Angesichts der vielen diesjährigen Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg gerät leicht in Vergessenheit, dass bereits vor zehn Jahren zahlreiche Bücher über die Vorgeschichte und den Verlauf des Krieges erschienen sind. Zu den wichtigen und noch immer lesenswerten Neuerscheinungen, die das 90jährige Jubiläum des Kriegsausbruchs hervorgebracht hat, gehört der von Richard Hamilton und Holger Herwig herausgegebene Sammelband "The Origins of World War I". Der Band geht zurück auf eine wissenschaftliche Tagung, die 1999 an der Ohio State University stattfand. Die Teilnehmer und Beiträger stammen allesamt aus der angelsächsischen Welt und dürften in Deutschland weitgehend unbekannt sein. Das gilt allerdings nicht für den deutschstämmigen Militärhistoriker Holger Herwig, der seit langem in Kanada lebt und forscht. Herwig ist einer der renommiertesten Experten für die Vorgeschichte und Geschichte des Ersten Weltkrieges. Aus seiner Feder stammen einige der interessantesten und gehaltvollsten Beiträge des Sammelbandes. Der Band hebt sich positiv von vergleichbaren Publikationen ab. Hamilton und Herwig geben Fragestellungen vor, die für alle Autoren verbindlich sind. Dadurch gewinnt das Buch eine innere Kohärenz, die man in Sammelbänden allzu oft vermisst. Vorbildlich sind auch die beiden Zusammenfassungen, in denen die Herausgeber alle Beiträge resümieren und unter dem Blickwinkel der zentralen Fragestellungen auswerten.
Elf der fünfzehn Beiträge sind einzelnen Staaten gewidmet, die am Ersten Weltkrieg teilnahmen. Ziel des Sammelbandes ist es, in einem systematischen Vergleich herauszuarbeiten, aus welchen Gründen und mit welchen Zielen europäische und außereuropäische Staaten in den Krieg eintraten. Die ersten Länderkapitel sind Serbien, Österreich-Ungarn, Deutschland, Russland, Frankreich und Großbritannien gewidmet. Darauf folgen Kapitel über Japan, das Osmanische Reich, Italien, die Balkanstaaten und Griechenland sowie die USA. Es lassen sich zwei Gruppen von Kriegsteilnehmern unterscheiden: Jene Mächte, die bereits im August 1914 in den Krieg eintraten, und solche Staaten, die sich erst später auf die Seite der Mittelmächte oder der Entente schlugen. Zur zweiten Gruppe gehören beispielsweise Italien, Bulgarien und Rumänien, die sich ihre Kriegsteilnahme von ihren jeweiligen Verbündeten "abkaufen" ließen (Inaussichtstellung von Gebietsgewinnen). Alle Länderkapitel orientieren sich an den Fragen, die die Herausgeber einleitend formulieren: Wer waren die Entscheidungsträger, die im Juli/August 1914 oder zu einem späteren Zeitpunkt den Entschluss zum Krieg fassten? Welche kollektiven und individuellen Erfahrungen und Prägungen ("Mentalitäten") waren dabei von Bedeutung? In welche politischen Strukturen und Mechanismen waren die Entscheidungsprozesse eingebettet? Welche Gründe führten die Entscheidungsträger an, um den Kriegseintritt ihres Landes zu rechtfertigen? Was hofften die Politiker und Militärs durch die Teilnahme am Krieg für ihr Land zu erreichen?
Zu Beginn (Kap. 1) betonen Hamilton und Herwig, dass der Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht angemessen erklärt werden kann, wenn Entscheidungsträger und Entscheidungsprozesse ausgeblendet werden. Die beiden Herausgeber wenden sich gegen Erklärungsmodelle, die nur abstrakte Faktoren und anonyme Kräfte in den Blick nehmen. Sie sind davon überzeugt, dass die rationalen Überlegungen und Entscheidungen konkreter Akteure für den Kriegseintritt aller Kombattanten verantwortlich waren. Mit anderen Worten: Hamilton und Herwig rücken die "human agency" in den Vordergrund, während strukturellen Faktoren eine geringere Bedeutung beigemessen wird. Hamilton und Herwig sind skeptisch, dass strukturelle Faktoren ausreichen, um den Kriegsausbruch zu erklären. Nacheinander setzen sie sich mit diesen Faktoren auseinander, die in vielen (älteren) Darstellungen zur Vorgeschichte und zum Ausbruch des Weltkrieges angeführt werden: Bündnissysteme; Nationalismus; Sozialdarwinismus; Imperialismus; Militarismus und Wettrüsten; Medien und öffentliche Meinung. Keiner dieser Faktoren, so die Herausgeber, könne für sich genommen und unter Ausblendung der Entscheidungsprozesse im Juli 1914 den Weg in den Krieg erklären. Hamilton und Herwig wenden sich auch gegen die These, bestimmte Staaten seien nur in den Krieg eingetreten, um von ungelösten inneren Problemen abzulenken. Vehement kritisieren sie ferner das Diktum von Lloyd George, alle Staaten seien ungewollt in den Krieg "hineingeschlittert". Die Annahme, fünf Großmächte seien gleichzeitig in einen Krieg geschlittert, widerspreche dem gesunden Menschenverstand und auch der Quellenlage. Kein Staat, keine Regierung schlittere in einen Krieg hinein; ein Krieg werde immer bewusst beschlossen.
Im zweiten Kapitel vermittelt Hamilton einen Überblick zur Geschichte des europäischen Staatensystems seit dem Wiener Kongress. Er arbeitet heraus, wie das Konzert der Mächte große Kriege lange Zeit erfolgreich verhinderte. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts avancierte der Balkan zu einer Krisenregion, die für wachsende Spannungen unter den Großmächten sorgte. Die Gefahr eines Konflikts unter Beteiligung mehrerer Mächte nahm zu. Im Folgenden sollen hier nur die Kapitel über Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich, Russland, Frankreich und Großbritannien ausgewertet werden. Die fünf Autoren kommen zu Ergebnissen, die sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: Verlust- und Abstiegsängste hätten die Führungen der Großmächte dazu bewogen, in den Krieg einzutreten. Außerdem zeigen alle Autoren, dass die Regierungen der fünf Mächte im Juli/August 1914 autonom handelten und entschieden, ohne dem Druck gesellschaftlicher Kräfte ausgesetzt zu sein. Keine Regierung wurde von der Bevölkerung oder einflussreichen Interessengruppen in den Krieg getrieben. Kleine Zirkel von Politikern, Diplomaten und Militärs trafen die verhängnisvollen Entscheidungen. Graydon Tunstall (Österreich-Ungarn) streicht heraus, dass sich die Wiener Regierung als erste bewusst für einen Krieg gegen Serbien entschied. Andere Optionen seien nicht in Betracht gezogen, Verhandlungs- und Vermittlungsvorschläge seien konsequent abgelehnt worden. Mit Rückendeckung Deutschlands habe Österreich-Ungarn einen lokal begrenzten Krieg führen und auf diese Weise seinen prekär gewordenen Großmachtstatus bekräftigen wollen. Das Risiko russischen Eingreifens sei von Wien leichtfertig in Kauf genommen worden.
Holger Herwig (Deutsches Reich) stellt in seinem Beitrag klar, dass von einem deutschen Griff nach der Weltmacht, von dem Fritz Fischer in den 1960er Jahren fabulierte, keine Rede sein kann. Es habe keinerlei ernstzunehmende Vorbereitungen für ein solch wahnwitziges Vorhaben gegeben. Herwig diagnostiziert bei den Entscheidungsträgern in Berlin Pessimismus und Abstiegsangst. Sie hätten einen Krieg gegen Russland und Frankreich mittelfristig für unvermeidlich gehalten und daher bewusst auf die militärische Option gesetzt, um Deutschlands vermeintlich bedrohte Stellung zu verteidigen. Abschreckung durch Rüstung sei aus Sicht der Reichsleitung nicht ausreichend gewesen. Österreich-Ungarn sei zu energischem Vorgehen ermutigt worden, um wachsenden Zweifeln an seiner Handlungs- und Überlebensfähigkeit als Großmacht entgegenzutreten. Vernichtend fällt Herwigs Urteil über Reichskanzler Bethmann Hollweg und dessen "Strategie des kalkulierten Risikos" aus. Der Plan, die Entente-Mächte durch die Ablehnung von Vermittlungsvorschlägen und den demonstrativen Schulterschluss mit Wien zu verunsichern und zum "Einknicken" zu bringen, erwies sich als katastrophale Fehlkalkulation. Der Kanzler glaubte, Russland würde sich wie schon während der Bosnischen Annexionskrise (1908/09) durch eine verschleierte Kriegsdrohung aus Berlin vom Eingreifen auf dem Balkan abhalten lassen. Erst in den letzten Julitagen dämmerte Bethmann Hollweg, dass seine riskante Bluff-Strategie gescheitert war. Der Kanzler resignierte und fügte sich in das Unvermeidliche ("Der Stein ist ins Rollen gekommen, und niemand kann ihn mehr aufhalten"). Der Krieg kam ihm, wie auch den Militärs, freilich nicht ungelegen, schien es ihm doch dringend geboten, Frankreich und Russland nachhaltig zu schwächen, bevor beide Deutschland militärisch überflügelten.
Die Kapitel über Russland (David Alan Rich) und Frankreich (Eugenia Kiesling) spiegeln einen Forschungsstand wider, der nicht mehr ganz aktuell ist. Jeder Leser sollte unbedingt die neueren Arbeiten von Sean McMeekin und Stefan Schmidt als ergänzende Lektüre heranziehen. Rich vertritt die Ansicht, Russland habe Serbien nicht im Stich lassen wollen, weil in diesem Fall sein wichtigster Verbündeter auf dem Balkan verlorengegangen wäre. Eine derart gravierende Minderung des Einflusses auf dem Balkan sei für die Petersburger Führung inakzeptabel gewesen. Rich und Kiesling gehen auf die militärische Kooperation zwischen Russland und Frankreich ein. Frankreich unterstützte die russische Rüstung durch umfangreiche Kredite; außerdem wurden die Pläne beider Armeen für den Kriegsfall koordiniert. Sowohl in Frankreich als auch in Russland setzte in den letzten Jahren vor dem Krieg ein strategisches Umdenken ein: Ein deutscher Angriff sollte nicht mehr defensiv, sondern durch eigene machtvolle Offensiven abgewehrt werden. Der Krieg sollte auf deutschen Boden getragen werden. Beide Autoren sehen allerdings nirgends Anzeichen für aggressive Bestrebungen der beiden Verbündeten. Kriegspläne gegen Deutschland hegten sie nicht; sie wollten nicht als erste losschlagen. Frankreich, so Kiesling, habe sich für den Kriegseintritt entschieden, weil Russland ohne französischen Beistand höchstwahrscheinlich besiegt worden und als Verbündeter verlorengegangen wäre. Einen künftigen Krieg gegen Deutschland hätte Frankreich allein nicht durchstehen können, so die Angst die Pariser Regierung. Frankreich sei in den Krieg eingetreten, um seinen wichtigsten Verbündeten nicht zu verlieren.
Was Großbritannien angeht, so widerspricht Paul Harris den Spekulationen von Niall Ferguson und John Charmley, das Inselkönigreich hätte sich aus einem Kontinentalkrieg heraushalten können, ohne von einem deutschen Sieg ernsthafte Nachteile befürchten zu müssen. Anders als in Wien, Berlin und Petersburg gab es in der Londoner Führung eine breite Mehrheit, die sich bis Ende Juli gegen den Kriegseintritt aussprach. Außenminister Grey handelte lange inkonsequent und ineffektiv, ehe er sich gegen Ende der Juli-Krise zu der Position durchrang, Großbritannien müsse Belgien und Frankreich beistehen, um eine deutsche Hegemonie auf dem Kontinent zu verhindern. Grey überzeugte die Skeptiker und Kriegsgegner mit dem Verweis auf ein klassisches Motiv der britischen Außenpolitik: Im Interesse Großbritanniens dürfe keine Macht in Europa zu dominierender Stellung gelangen. Dies, so Harris, sei ausschlaggebend gewesen, weniger die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Großbritannien und Deutschland oder das Flottenwettrüsten, das bereits 1912 zugunsten Großbritanniens entschieden worden sei. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die britische Militärführung in den Julitagen aus allen Beratungen herausgehalten wurde. Auch darin unterscheidet sich der Entscheidungsprozess in London von dem in den vier anderen Hauptstädten.
Auch wenn sich der Sammelband "The Origins of World War I" nicht mehr ganz auf der Höhe des Forschungsstandes bewegt, bietet er doch immer noch viele bedenkenswerte und diskussionswürdige Interpretationsangebote. Einleuchtend ist der übergreifende Erklärungsansatz für den Ausbruch des Krieges: Alle fünf Großmächte wurden in der einen oder anderen Form von Verlust- und Abstiegsängsten geplagt. Ein siegreicher Krieg schien das einzige Mittel zu sein, den Verlust von Bündnispartnern und/oder den Verlust des eigenen Großmachtstatus abzuwenden. Eroberungs- und Expansionsgelüste spielten keine Rolle in den Entscheidungsprozessen, die zum Krieg führten. Hat man die einzelnen Beiträge gelesen, so erkennt man, dass der von Hamilton und Herwig favorisierte akteursbezogene Ansatz etliche neuere Bücher stark beeinflusst hat, etwa Christopher Clarks "Schlafwandler" oder Jürgen Angelows Studie über die Juli-Krise. Von besonderem Wert ist die dem Band beigefügte detaillierte Chronologie der Ereignisse von Juni bis August 1914 (S. 507 bis 519).
Ein Hinweis zum Schluss: Unter dem Titel "Decisions for War" haben Hamilton und Herwig 2004 eine gekürzte Fassung des Sammelbandes herausgegeben, die für den universitären Lehrbetrieb gedacht ist. Es handelt sich also nicht um zwei inhaltlich verschiedene Bände, wie man zunächst annehmen könnte.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Mai 2014 bei Amazon gepostet)