Rezension zu "Stalin" von Richard Lourie
Auf dieses Buch hat mich der israelische Militärhistoriker van Creveld gebracht, der es in seinem Werk "Hitler in Hell" erwähnt. Richard Lourie hatte es van Creveld methodisch vorgemacht und eine fiktive Autobiografie Stalins verfasst. Allerdings endet sie bereits 1940 mit der Ermordung Trotzkis in dessen mexikanischen Exil und wird aus der Perspektive von 1937 bis dahin vom fiktiven Stalin erzählt. Damit enthält sie auch die Zeit einer weiteren Säuberungswelle, die mit dem dritten Moskauer Schauprozess ihren Höhepunkt fand. Dazwischen schweift der fiktive Stalin immer wieder in seine Vergangenheit ab, beschreibt seine Kindheit und Jugend, seine Karriere als "Revolutionär" und Kleinkrimineller, sowie die Zeit von 1912 bis zu Lenins Tod.
Dazwischen und für die Zeit danach bis zum Beginn der Aufzeichnungen gibt es immer wieder Lücken, was das Verständnis nicht unbedingt verbessert. Als "autobiografischer" Roman stellt das Buch die nicht verifizierbare Theorie auf, Stalin hätte Lenin vergiftet. Bis dahin fixiert sich Lourie auf den Machtkampf zwischen Trotzki und Stalin. Trotzki arbeitete zu dieser Zeit an einer Biografie Stalins, die er nicht zu Ende bringen konnte und sollte. Immerhin aber wurde sie später veröffentlicht.
Was macht dieses Buch nun eigentlich interessant? Wenn man es etwas abstrakter sieht, zeigt es, wie sich ein Mensch Schritt für Schritt in einer grundsätzlich wenig demokratischen Organisation bis zur Spitze hocharbeiten kann, um sie dann systematisch in eine völlig autokratische Struktur mit unbegrenzter eigener Macht umzuwandeln. Bei Stalin waren das sowohl die kommunistische Partei als auch danach der gesamte Staat. Stalin besaß eine hinreichend hohe Intelligenz, die überhaupt erst strategisches Denken ermöglicht. Sein psychopatischer Vater, eine Behinderung und seine geringe Körpergröße stellten ihn vor die Wahl, entweder besondere Methoden zu entwickeln, um sich durchzusetzen, oder unterzugehen. Sein Charakter ließ ihm keine Wahl: Aufzugeben war keine Option.
Setzt man solche Voraussetzungen mit einer Fähigkeit zusammen, die man heute "Netzwerken" nennt, dann kann man sich die ganze brutale Karriere dieses Mannes verständlich machen. Teile seines Netzwerkes, die ihm gefährlich werden konnten, liquidierte er später einfach. Einiges, aber wahrlich nicht alles, wird in diesem Buch beleuchtet. Wer mit Stalin zu tun hatte, wusste grundsätzlich immer zu viel und musste deswegen stets damit rechnen, dass er dieses Wissen mit dem Tode bezahlen würde.
Obwohl es bis heute schwer ist, den tatsächlichen Umfang dieses unvorstellbaren Terrors zu erfassen, denn die russischen Archive sind verschlossen, überschreiten die Opferzahlen bei weitem die des anderen Diktators jener Zeit. Ein Tatsache, die man auch heute noch nicht gerne zur Kenntnis nimmt, weil sie nicht ins sozialistische Denken passt.
Das Buch liest sich besonders dann nicht schlecht, wenn man mit der russischen Geschichte oder kommunistischen Denkweisen vertraut ist. Stalin wird in ihm als das dargestellt, was er in Wirklichkeit war: ein psychopatischer Kleinganove, der es bis an die Spitze eines zutiefst undemokratischen Systems geschafft hatte. Man ist vielleicht geneigt, dies als Unfall anzusehen, aber es ist das genaue Gegenteil, denn dieses System ist wie gemacht für Leute vom Schlage des Josef Wissarionowitsch Dschughaschwili.