Rezension zu "Die Erfahrung des kosmischen Bewußtseins" von Richard Maurice Bucke
rumble-beevor 14 JahrenIch habe lange gezögert, ob ich tatsächlich eine Rezension zu diesem Buch verfassen soll. Denn der interessierte Leserkreis für dieses Werk dürfte zweifellos sehr begrenzt sein. Auch weiß ich nicht, inwiefern das Buch noch erhältlich ist - ich selber habe es gebraucht von privat erworben. Doch hat sich mein Gewissen als Leser durchgekämpft. Ich finde das Buch, trotz seines Alters und seiner Eigenheiten, lohnenswert, wenn man mit der richtigen Einstellung an die Lektüre geht. Und genau davon möchte ich nun berichten.
Titel sowie Name des Verfassers geben nicht unbedingt klaren Aufschluss darüber, worum es hier geht. Richard Maurice Bucke war sicherlich kein gewöhnlicher Autor. Soweit mir bekannt ist, ist dies sein einziges Buch; dennoch sind in dieses schmale Bändchen viel seines Wesens und seiner Interessen eingeflossen.
Er war ursprünglich Engländer, der schon als Kind mit seinen Eltern nach Kanada auswanderte. Sein Leben verlief recht abenteuerlich. Als Kind war er Autodidakt, er ging nie zur Schule, und wurde daheim unterrichtet und erzogen - und zwar vor allem in der reich bestückten Bibliothek (!) seines Vaters. Nach dem Tod des Vaters führte er einige Jahre lang das Leben eines Wanderers und Abenteurers. Das muss man sich mal vorstellen: Ende des 19. Jahrhunderts mit einem Trupp von Männern zu Fuß quer durch Amerika zu laufen, um über die Rockys zu gelangen! Fast wäre er dabei umgekommen, er entkam nur knapp mit dem Leben, verlor aber durch Erfrierungen einen Fuß.
Nach dieser aufreibenden Zeit wurde er endlich sesshaft; er holte seinen Schulabschluss nach, studierte, wurde Arzt und insbesondere Psychiater. Seine im Leben gemachten Erfahrungen scheinen ihm dabei sehr geholfen zu haben. Zeit seines Lebens muss er eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein, die viel Charisma verbreitete, und die sich intensiv für alle Vorgänge des menschlichen Geistes interessierte. Nach einer Art "Erleuchtungserfahrung", die er während eines Aufenthaltes in seiner alten Heimat England machte, begann er, für weitere Nachweise dieses Erlebnisses bei anderen Persönlichkeiten der Weltgeschichte zu suchen. Diese Suche sollte mehrere Jahre dauern, bis daraus dieses Buch entstand. Nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung des Werkes starb der Autor, als er auf einer Eispfütze ausglitt und mit dem Kopf aufschlug.
Es ist ansonsten nicht meine Art, den Lebenslauf eines Autors derart auszubreiten. Doch in diesem Falle scheint mir das gerechtfertigt zu sein, ja, sogar notwendig. Wie man sieht, war dieser Mann eine starke Persönlichkeit, die immer genau das durchsetzte, was sie gerade bewegte. Er hatte alles, was er je gelernt hatte, im wesentlichen sich selbst zu verdanken. Dementsprechend sollte man dieses Buch weniger als "Forschungsarbeit" (wie von ihm angekündigt), also nicht als wissenschaftliches und sachliches Buch sehen, sondern eher als das sehr lebendige Zeugnis eines wachen und vielseitig interessierten Geistes - dessen Resultate durchaus diskutiert werden können.
Im Titel wird das Kerninteresse des Autors ein wenig verschwurbelt mit "kosmischem Bewusstsein" umschrieben. (im Original: "cosmic consciousness") Der Autor ist sich des behelfsmäßigen Charakters dieser Formulierung wohl bewusst. Teilweise gebraucht er im Text auch den Ausdruck "Erleuchtung", sowie einige andere Termini. Aber diese sind alle mit größter Vorsicht zu genießen. Hier geht es um etwas sehr Individuelles, das man nicht unbedingt mit gängigen religiösen oder spirituellen Vorstellungen von "Erleuchtung", wie zum Beispiel im Buddhismus, gleichsetzen darf! Dieser Mann hat etwas erlebt, was er als grandiose Erweiterung seines Bewusstseins deutete, die ihm schlicht und einfach widerfuhr. Er hat sie nicht bewusst gesucht. Er nahm weder Drogen, noch hat er jahrelang meditiert. Nein, er war "einfach nur" immer interessiert an allem, was mit dem menschlichen Geist zu tun hat. Wohl auch, um sich selber besser zu verstehen und einzuordnen, verfasste er daraufhin dieses Buch. Nach Jahren der Forschung (wohlgemerkt: neben seinem eigentlichen Beruf als Arzt!) kam er zu dem Ergenis, dass es erstens im Laufe der Geschichte eine Vielzahl derart "erleuchteter" Menschen gegeben hat, und dass zweitens die Menschheit insgesamt auf eine Veränderung ihres Bewusstseinsniveaus zusteuere.
Er bemüht sich durchaus, das Buch sachlich und logisch aufzubauen. Es gibt einen ersten Teil, in dem der Autor schildert, wie sich die Menschheit überhaupt geistig entwickelt hat. Vor allem geht es ihm darum zu zeigen, dass neue Fähigkeiten immer langsam und durch Evolution hervorgebracht wurden. Sehr faszinierend fand ich seine Ausführungen zu Farbsinn und Musikalität! So behauptet er beispielsweise, die frühen Menschen hätten nur wenige Farben sehen können, und auch die Fähigkeit, Musik zu verstehn, sei erst langsam gewachsen. Dies wird nicht streng wissenschaftlich, aber doch sehr lebendig durch Beispiele aus Geistesgeschichte und Bibel (!) belegt (obwohl der Autor keiner bestimmten Religion angehörte). Gegen Ende dieser Einleitung steuert er dann auf seine Kernthese zu. Auch das "kosmische Bewusstsein" sei eine solche neue Fähigkeit, und sie werde sich langsam verbreiten, bis sie zum Allgemeingut der Menschheit werde. "Beweise" dafür seien die von ihm gesammelten Lebensgeschichten und Fallbeispiele.
Nun geht es in den zweiten Teil des Buches. Dieser besteht aus einer Vielzahl von Lebensgeschichten, wobei es aber nicht um ausführliche Biographien geht, sondern immer um die Schilderung solcher "Momente der Erweckung" bei bedeutenden Männern der Geschichte. Dazu zählen beispielsweise Religionsgründer und Philosophen wie Jesus, Mohammed, Laotse, Augustinus und Pascal, aber auch sehr eigentümliche Charaktere wie Dante, Walt Whitman, Francis Bacon und Plotin! Teilweise referiert der Autor hier, was er über die Personen weiß, teilweise zitiert er aber auch ausführlich aus deren Werken, sofern diese Menschen Autoren waren oder Schriften hinterlassen haben. In der Tat ist das Vorgehen Buckes in diesem Abschnitt sehr eklektisch, um es einmal vorsichtig zu sagen! Es gibt keine einheitliche, geschweige denn wissenschaftliche, Methode der Beweisführung. Alles läuft auf die persönliche Interpretation durch den Autor hinaus. Dennoch konnte mich dieser Abschnitt fesseln und für sich einnehmen, einfach dadurch, dass er eine lebendige Imagination vermittelt, dass er einen scharfen Blick dafür hatte, wann ein Lebenslauf "kippt" und besonders wird, kurz: dass er zu vermitteln sucht, wodurch sich alle diese genannten Menschen von "gewöhnlichen Sterblichen" unterschieden. Die letztliche Interpretation der gesammelten "Beweise" liegt allerdings immer noch beim Leser!
Ich wiederhole es noch einmal, weil es mir wichtig ist zu zeigen, dass es sich hier um ein Buch handelt, das jeder für sich selber bewerten muss: Hier werden keine unumstößlichen Wahrheiten vermittelt, hier wird nichts im eigentlichen Sinne "bewiesen"! Aber es werden wertvolle und teils auch kuriose Einsichten vermittelt. Sicher, man kann Bucke kritisieren. Warum nimmt er nur Männer in das Buch auf? Warum hat er sich nicht auf Philosophen und Religionsgründer im engeren Sinne beschränkt? Und seine Liste von "Indizien für Erleuchtung" liest sich durchaus ein wenig kurios. Ein "Erleuchteter" hat, laut Bucke, oft folgende Kennzeichen:
* er strebte sein Leben lang nach der Wahrheit,
* er ist im Durchschnitt 30 bis 35 Jahre alt,
* er sieht ein helles Licht oder Strahlen,
* er ist zunächst verängstigt,
* er erfährt eine unglaubliche Steigerung aller seiner Fähigkeiten,
* er führte ein bescheidenes und zurückgezogenes Leben,
* seine Eltern waren oft völlig gegensätzliche Charaktere.
(Also, wenn es danach geht, hätte ich auch gute Aussichten auf Erleuchtung...!)
Es gibt auch noch ein kurzes Nachwort, in dem aber im Grunde nur die Gedanken aus der Einleitung, sowie einige Passagen aus dem zweiten Teil, zusammengefasst werden.
Soll man dieses Buch nun lesen? Man soll nicht, aber man kann. Man kann es lesen, um sich selber Gedanken zu machen, wie man zu diesem Themenkomplex steht. Man kann sich in der Tat fragen, was die Qualitäten "großer Menschen" ausmacht. Man mag sich wundern, nachdenken, sinnieren. Und vielleicht, ganz zum Schluss, sich selber in diesem Buch wiederfinden. Das hat für mich den eigentlichen Wert dieses Buches ausgemacht.