Cover des Buches Der Klang der Zeit (ISBN: 9783596511822)
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Rezension zu Der Klang der Zeit von Richard Powers

"Alle Macht dem Milchkaffee!"

von lippunermarc vor 9 Jahren

Rezension

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lippunermarcvor 9 Jahren
In seinem breit angelegten Roman erzählt Richard Powers vom Zerbrechen einer amerikanischen Familie an den Grenzen von Schwarz und Weiß.

Ich habe das Buch direkt nach seinem Erscheinen 2004 gelesen und damals auf NEON.de eine ausführliche Rezension dazu geschrieben.Meine Eindrücke hier noch einmal in gekürzter Form wiederzugeben, hat mit den derzeitigen Ereignissen in Ferguson zu tun. Denn Powers' weit angelegter Familienroman, der einen Vergleich mit Thomas Manns Buddenbrooks durchaus zulässt, ist auch zehn Jahre nach seinem Erscheinen von brisanter Aktualität.

Wie Thomas Mann beobachtet Powers den langsamen, drei Generationen umfassenden Verfall einer Familie. Während Mann jedoch die Dekadenz eines etablierten Bürgertums beschreibt, kämpfen die Figuren in Powers’ Roman erst einmal um die Anerkennung ihrer Bürgerrechte: Ein jüdischer Exilant und eine Afroamerikanerin verlieben sich auf dem Konzert der farbigen Sängerin Marian Anderson, welche, nachdem ihr Auftritt in der Constitution Hall aufgrund von rasseideologischen Bedenken verhindert worden ist, am Ostersonntag 1939 - unterstützt von einem Protestkomitee der amerikanischen First Lady - vor Zehntausenden von Menschen am Fuße des Washingtoner Lincoln-Denkmals singt und über die weiße Welt triumphiert. Berauscht von diesem Ereignis und beseelt von der Hoffnung, dem amerikanischen Traum jenseits der Rassentrennung ein Stück näher gekommen zu sein, heiraten Delia und David in vollem Bewusstsein, dass ihre Ehe in einem Großteil der Vereinigten Staaten noch immer ein Verbrechen ist und in den übrigen Anlass genug bietet für Diskriminierung und Hass. Mithilfe der Musik, die Grenzen wie Rasse und Klasse mühelos überschreitet, beschließen sie, die Realität vor ihrer Haustür zu ignorieren und setzen ihre drei Kinder im Niemandsland zwischen den Rassen aus. Sie sollen Kinder eines kommenden Zeitalters sein, wo die Kategorie Rasse nicht mehr existiert, wo alles vermischt ist und wie in einem Akkord harmonisch zusammenklingt.

Der Roman ist streng komponiert und zeugt von einer beeindruckenden sprachlichen Musikalität: „Rhythmus, das ist eine geschlossene zeitartige Schleife“, eine Schleife, die sich in der Erzählstruktur des Romans wiederfindet, dessen letztes Kapitel die Nichtigkeit der Zeit offenbart. Powers durchbricht bewusst die lineare Struktur seiner Geschichte, er arbeitet mit Wiederholungen und wechselnden Erzählsituationen, füllt Seiten mit einer Vielzahl von musikalischen Metaphern und Bildern. Vielleicht ist es gerade diese Virtuosität, die den Eindruck erweckt, der Roman ist an einigen Stellen zu lang geraten, zu ausufernd und extensiv. Andererseits unternimmt Powers den gewaltigen Versuch, die Geschichte des schwarz-weißen Amerikas zu beschreiben, ein Unternehmen für das 750 Seiten kaum ausreichen können:
„Ich habe oft überlegt, wie Amerika aussähe, wenn die Regel umgekehrt gewesen wäre. Wenn ein Tropfen weißes Blut genügt hätte, um einen Amerikaner weiß zu machen.“
Powers fügt die Familiengeschichte nahtlos in die Zeitläufe der amerikanischen Geschichte ein; er spannt einen Bogen vom Bürgerkrieg bis zu den Straßenkämpfen in Los Angeles, bei denen vor 22 Jahren nach dem Freispruch von vier weißen Polizisten, die den Schwarzen Rodney King beinahe zu Tode geprügelt hätten, 54 Menschen starben, über 2300 verletzt wurden und mehr als 700 Häuser brannten. Die Berichterstattung um Ferguson liest sich wie ein weiteres trauriges Kapitel in der Geschichte von 150 Jahren Sklavenbefreiung, „bei der niemand befreit wurde“. Der Roman ist das Lehrbild einer unendlichen Geschichte der Intoleranz, egal ob es Antisemitismus, Rassenhass oder Glaubenskriege betrifft. Die Antwort auf die Frage, ob sich in den Köpfen der Menschen etwas ändern wird, liefert die Welt täglich selbst:
"Irgendwann in der Zukunft. Oder kurz danach."
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