"Sie (gemeint ist die funktionelle Demokratie) wird in der "Bourgeois-Republik" durch eine sogenannte "funktionelle Oligarchie" ersetzt: Banken, Großindustrie und deren Verbände kontrollieren zunehmend die politische Exekutive, während die Parteien und Organisationen der Arbeiterbewegung nur defensiv zu operieren vermögen". Analyse der Banken- oder Eurokrise? Von wegen, Analyse des Austromarxisten Oto Bauer aus dem Jahr 1924. In der Gesellschaftsanalyse lag und liegt seit jeher die Stärke des Marxismus, in den sich daraus ergebenden Folgen für das praktische politische Handeln schwächelt/versagt er.
Dies zeigen die insgesamt 17 Aufsätze unter der Überschrift "Solidargemeinschaft und Klassenkampf" meiner Meinung nach überdeutlich. Eigentlich handelt es sich bei diesen beiden Begriffen um das Dilemma sozialdemokratischer Politik in der Weimarer Republik. Die SPD sah sich als die wahre staatstragende Partei, weil die Demokratie nach ihrer Theorie zwangsläufig in den Sozialismus münde. Dafür schluckte sie bis hin zur Selbstverleugnung viele Kröten, denn die Demokratie musste ja auf jeden Fall erhalten bleiben. Auf der Strecke blieb das Klassenbewusstsein, was seinen Ausdruck im Verzicht auf den Klassenkampf fand. Die Chance zur Vergesellschaftung der Industrie und des Bankenkapitals wurde 1918/19 verschenkt, spätestens seit 1923 setzten die Interessenvertreter der Wirtschaft alles daran, die sozialen Errungenschaften der Revolution zurückzudrängen. Dieses wiederum führte bei der SPD zu einem noch stärkeren Glauben an einen starken Staat, der alles richten könne und müsse. Als dann mit der Weltwirtschaftskrise dieser starke Staat von Demokratiegegnern sang- und klanglos übernommen wurde, war die Partei aufgrund der, auch durch ihre Politik forcierten, Zersplitterung der Arbeiterschaft nicht mehr in der Lage, sich dagegen zu wehren. Fast hat man den Eindruck, als starre die Parteiführung wie ein Kaninchen auf die Schlange.
Zur Ehrenrettung und auch zur Ernüchterung sei allerdings ausgeführt, dass der ebenfalls im Buch aufgezeigte Weg der österreichischen Sozialdemokratie, strikte Opposition unter Festhalten am Klassenkampf bei gleichzeitiger Ausnutzung von Machtpositionen, etwa im "roten" Wien, zwar eine Spaltung der Arbeiterklasse wie in Deutschland verhinderte, die KPÖ war im Gegensatz zur KPD eine Randerscheinung, aber letztendlich genau so wenig erfolgreich war. Am Ende stand dort ein klerikal-konservatives System, das dem Nationalsozialismus bzw. dem "Anschluss" Vorschub leistete.
Was die Spaltung der deutschen Arbeiterschaft betrifft, der Vorwurf marxistischer Wissenschaftler, die Politik der SPD habe einer Volksfront mit der KPD im Wege gestanden und damit Hitler erst möglich gemacht, ist heuchlerisch. Gerade die KPD hat durch partielle Zusammenarbeit mit der NSDAP an dem Ast gesägt, den sie angeblich erhhalten wollte.
Deutlich wird durch die Aufsätze allerdings auch, wie sehr die SPD in der Bundesrepublik zu einer stromlinienförmigen Partei verkommen ist, die zu den Futtertöpfen drängt, jüngstes Beispiel: Gabriels pro-fracking-Entscheidung. In der Weimarer Republik war Sozialdemokrat-Sein eine ganzheitliche Lebensauffassung, an dieser Stelle sei auf das parteiinterne Kulturleben und das Streben nach einem "Neuen Menschen" verwiesen. Was davon ist heute noch übrig geblieben?