Cover des Buches Der Vorgang Benario (ISBN: 9783958410411)
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Rezension zu Der Vorgang Benario von Robert Cohen

Ein wichtiges Zeitzeugnis, aktueller denn je

von Devona vor 7 Jahren

Rezension

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Devonavor 7 Jahren

Bücher wie „Der Vorgang Benario“ kann man eigentlich nicht rezensieren. Man kann sie lesen, verinnerlichen und so man mit offenen Augen und offenem Gehirn durch die Gegenwart geht, wird man Angst bekommen. Ich wünsche jedem Leser, dass es eine Angst sein möge, die ihn wachrüttelt, die ihm Erkenntnis beschert und ihn handeln läßt.

Der Klappentext erklärt, wie es zu diesem Buch kam. Robert Cohen hat sich der Herausforderung gestellt, aus Tausenden -teilweise unübersichtlichen- Seiten Gestapo-Akte ein Exzerpt zu erstellen, dass es dem Leser ermöglicht, den Weg der inhaftierten Kommunistin Olga Benario von der Auslieferung durch die brasilianischen Behörden 1936 bis zu ihrem Tod in der „Euthanasieanstalt“ Bernburg im Jahr 1942 zu verfolgen.

Dieses Buch ist aufbereitetes Täterwissen, reine Täterdokumentation der Gestapo. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man sich an die Lektüre macht. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass „Der Vorgang Benario“ ein „Stellvertreterbuch“ ist, es gab Tausende derartiger Akten. Für die Leser, die mit den Personen Olga Benario und Luis Carlos Prestes nicht so vertraut sind (mir als in der DDR sozialisiertem Mensch sind beide bestens bekannt gewesen, zahlreiche Schulen trugen ihre Namen), gibt es ein knappes, aber detailliertes Vorwort zu Beider Biografie. [Wer sich näher mit den beiden Widerstandskämpfern beschäftigen möchte, dem sei der Briefwechsel des Paares aus der Haft empfohlen, der ebenfalls von Robert Cohen im Jahre 2013 bei Wallstein herausgegeben wurde. Ich habe es nicht gelesen.]

Aus jeder Zeile dieser Dokumentation trieft deutsche Gründlichkeit, deutsche Korrektheit, deutsche Ordnung, deutsche Dienstbeflissenheit, deutsche Obrigkeitshörigkeit von Mitarbeitern und Aktenführern. Der Briefverkehr über die korrekte Auflistung und Verwertung des „Nachlasses“ ( 15 Schlüpfer, 6 Jacken, 2 Hüfthalter, 11 Blusen usw.) einer vergasten Person noch Monate nach ihrem Tod zwischen der Gestapo und dem „Hauptamt für Volkswohlfahrt der NSDAP“ inklusive Berechtigungsscheinen und Empfangsquittungen ist eigentlich unvorstellbar, erschütternd und NUR EIN Beispiel. Keine Briefmarke, kein Geld, welches Olga Benario während ihrer Haft Verwandte und internationale Organisationen zur Hafterleichterung zukommen ließen, wurde von den Nazis unterschlagen, alles wurde KORREKT erfasst, dokumentiert, erledigt. (Lediglich bei der Todesursache nahm man es nicht ganz so genau.)

Das Reichssicherheitshauptamt an den Direktor des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück:

Im Nachgang zur Überweisung von 49 Reichsmark und 70 Pfennige an den Schutzhäftling Benario übersende ich eine Zuschrift der Garantie- und Kreditbank für den Osten mit Quittungsformular und Umschlag für die Rückantwort mit der Bitte um unmittelbare Erledigung.

Das hat keiner geschrieben, der Zyklon B in Lüftungsschächte geworfen hat. Sicher nicht. Es bleibt aber auch nach 80 Jahren die beklemmende Frage: wer hat wovon gewusst, wer war BEWUSST Täter, wer war Mitläufer, wer war nur menschlich naiv? Wie konnte all das passieren?

Diese Fragen muss ich mir aber nunmehr als lange nach dem Krieg Geborene stellen dürfen, ohne das Gefühl haben zu müssen, hier mit einer Erbsünde und generationsübergreifender Kollektivschuld leben zu müssen und fürderhin am Rest der Welt Buße tun zu müssen. Genau das passiert aber in der Gegenwart. Ich darf mir diese Fragen nicht als Mensch stellen, sondern werde veranlasst, dies als Deutscher zu tun. Ich weigere mich. Ich nehme diesen staatlich verordneten Schuldkomplex nicht an. Ich bin keinem Menschen der Welt etwas anderes schuldig als den normalen, zwischenmenschlichen Respekt, den mir meine gute Kinderstube gebietet.

Was hat mir nun diese ANGST gemacht? Ich bin kein ängstlicher Mensch, ebenso wenig bin ich konfliktscheu. Ich bin lediglich vorsichtig und misstrauisch auf rationaler Ebene. Im Oktober vergangenen Jahres habe ich die Jobcenter-Akte eines ALGII-Empfängers lesen dürfen, dem aufgrund einer anonymen Denunziation alle Leistungen gestrichen wurden, dem mit mehreren Personen wochenlang nachspioniert wurde und der schlussendlich -ohne dass der Betroffene Gelegenheit zu persönlicher Stellungnahme bekam- beim LKA wegen „Sozialbetrugs“ angezeigt wurde. Es wurden Beweise gefälscht und es wurde in der Akte vermerkt, dass es eigentlich keinen Sanktionsgrund gab. Schwarz auf weiß. Die gefälschten „Beweise“ wurden dem Betroffenen ausgehändigt. Die Anzeige beim LKA verschwiegen.

Ton und Stil, Aufbau und Inhalt dieser behördlichen Akte aus dem Jahr 2016 ließen die 80 Jahre, die sie von der Olga Benarios trennen, dahinschmelzen. Nein, da ließen sich kaum Unterschiede feststellen. Auch hier machen Deutsche wieder „nur ihre Arbeit“. Auch das zivile Rollkommando des Jobcenters hat akribisch und mit Uhrzeit vermerkt, welche Aktionen durchgeführt wurden. Es werden fußläufig zurückzulegende Entfernungen gemessen, Briefkästen mehrere Tage in Folge durch die Blickschlitze auf Inhalt überprüft, die Anwesenheit des Betroffenen in seiner Wohnung zu verschiedenen Tageszeiten gecheckt. Die Hausverwaltung des Leistungsbeziehers soll telefonisch zu Informationen genötigt werden, die sie aus datenschutzrechtlichen Gründen verweigern muss.

Noch kann man sich gegen die Inhalte der heutigen Akte Kraft Gesetzes wehren. NOCH. Aber auch die Täter stehen bereits unter gesetzlichem Schutz: § 353 StGB – Abgabenüberhebung, Leistungskürzung – zwei Sonderstraftatbestände des Amtsmissbrauchs, „in denen der Amtsträger jedoch nur dann bestraft wird, wenn er die rechtswidrige Amtshandlung (hier: die rechtswidrige Kürzung von staatlichen Leistungen) zu seinem persönlichen Vorteil vollzieht, wogegen die rechtswidrige Amtshandlung zum Vorteil des Staates und damit zum Nachteil des von der Amtshandlung unmittelbar Betroffenen straflos bleibt.“ [War es nicht schon Ovid, der den Anfängen wehren wollte? Und wir haben es immer noch nicht kapiert?]

Wie leben in einer Zeit, in der das Wort „Nazi“ unreflektiert für Alle benutzt wird, die sich staatlich vorgegebenen Denkweisen widersetzen, die Fragen stellen und „nein“ sagen. Wir leben in einer Zeit, in der ein SPD-Politiker in sozialen Netzwerken (Twitter, gestern) einen Menschen mit Veröffentlichung persönlicher Daten diffamiert, der sich ihm gegenüber als Wähler einer anderen demokratischen Partei outet. Wir leben in Zeiten, in denen das biologische Geschlecht eines Menschen irrelevant zu werden droht und die sexuelle Früherziehung eines Kindes durch den Staat und nicht mehr durch die Eltern bestimmt wird. Und das Schlimmste: die freie Berichterstattung soll mundtot gemacht werden. Es gibt Akten über Menschen und es gibt Denunziationen. Nicht nur anonyme. In besagter Akte fanden sich auch Denunziationen mit Absender. Von einer 84-Jährigen und einem katholischen Pfarrer. Die sind sich des Umstandes, DASS sie denunzieren, nicht einmal bewusst. Die „meinen es nur gut“.

Die „Gestapo“ (ich schreibe es ganz bewusst in Anführungsstrichen, denn natürlich ist nicht Hitlers Gestapo gemeint) ist längst wieder unter uns. Nur die Marschrichtung hat sich geändert. Und sie hat große Teile einer jetzt schon zutiefst gespaltenen Gesellschaft im Griff.

Ich wünsche mir und meinen Mitmenschen, dass unsere Urenkel nicht dereinst in der Schule sitzen müssen und in einer Geschichtsklausur die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem „Vorgang Benario“ 1936-1942 und dem „Vorgang Lieschen Müller“ 2016-2026 ausarbeiten müssen. Allerdings befürchte ich genau das. Ich wünsche mir, dass Gehirn benutzt und nicht fremd-programmiert wird. „hatespeech“ verbieten? Warum? Ich hasse dieses DDR 2.0 Gefühl, welches mich mittlerweile tagtäglich beklemmend überfällt und ich lasse mir nicht verbieten, darüber zu sprechen. Und Antworten von denen zu verlangen, die Verantwortung tragen.

Fazit: „Der Vorgang Benario“ sollte Schullektüre werden. In Kombination sollte man mit den Kindern vielleicht ein paar Behörden dieses Landes besuchen, die ihre Arbeit dann vorstellen und deren SINN detailliert erklären. Kinder stellen manchmal Fragen, die Erwachsene zum Nachdenken über ihr Tun anregen.

www.buchimpressionen.de

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