Es gibt Bücher, die laufen dir immer wieder über den Weg. Du liest von ihnen in anderen Büchern, weil die Hauptfigur in einem Roman dieses Buch liest. Oder sie werden vom Erzähler zitiert. Oder sie tauchen auf, weil sie in irgendeinem literarischen Kontext erinnert werden.
Kurt Vonneguts „Schlachthof Nr. 5“ war für mich so ein Buch oder Don Quichotte von Cervantes.
Irgendwann weißt du: Jetzt muss ich dieses Buch lesen!
Und du ahnst auch: es wird vermutlich nicht leicht. Aber das ist gut so, denn besondere Bücher dürfen Besonderes abverlangen. Ja, irgendwie erwartest du das auch.
„Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von John Pirsig ist definitiv ein solches besonderes Buch.
Die Lektüre empfand ich als einen Marathonlauf, allerdings als einen im Schritttempo. Denn auf den gut über 700 Seiten passiert handlungstechnisch fast NICHTS. Der Ich-Erzähler beschreibt eine Motorradtour quer durch die USA, die er gemeinsam mit seinem heranwachsenden Sohn Chris unternimmt. Der Erzähler fährt, der Sohn sitzt hinten drauf, die Landschaft zieht vorbei. Sie fahren und fahren, unterbrechen ihre Fahrt nur um zu schlafen oder zu essen. Sie reden kaum.
Viel Raum für einen unfassbar ausführlichen inneren Monolog, bei dem der Erzähler zunächst endlos über Motorradwartung referiert, um von diesem Thema – nur sehr langsam – auf philosophische Fragen überzugehen. Unterbrochen wird das Philosophieren gelegentlich von persönlichen Erinnerungen, die einen zweiten Handlungsstrang eröffnen. Denn vor dieser Motorradtour - so erfährt man sukzessive - war der Ich-Erzähler Dozent an einer Universität. Die Suche nach einer für ihn essentiellen philosophischen Antwort (die Definition von Qualität) hatte ihn buchstäblich in den Wahnsinn getrieben. Der erlebte psychische Zusammenbruch teilt sein Leben in ein Vorher und Nachher. Er spricht von seinem Ich in dieser Vorher-Zeit als von einer anderen Person, der er sogar einen eigenen Namen (Phaidros) verleiht.
Die Fahrt entpuppt sich als eine Erinnerungsreise, auf der der Ich-Erzähler den Weg seiner philosophischen Erkenntnisfindung akribisch nachzeichnet. Jeder einzelne Gedanke wird dabei sorgfältig kulturhistorisch eingeordnet.
Doch nach und nach offenbart sich der Sinn seiner Pedanterie: Mit Hilfe seines engmaschigen Vorgehens konstruiert er sich ein Sicherungsnetz, um sich vor dem erneuten Absturz zu bewahren. Er hat Angst davor, an der Unlösbarkeit der eigenen Frage zu scheitern und dadurch den Sinn zu verlieren, den Sinn aller Dinge, aller Fragen und Antworten, und am Ende sich selbst.
Pirsig zwingt seine Leserschaft zur Geduld. Immer wieder wird das Lesetempo durch Einschübe gebremst, die auf den ersten Blick nichts zur Handlung beitragen. Doch obwohl man ahnt, dass dieses Vorgehen Teil seines Plans ist, ja Teil seiner Geschichte, kostet es regelrecht Selbstüberwindung die Lektüre nicht abzubrechen.
Doch dann passiert etwas Seltsames: die Langsamkeit wird zur Botschaft, mit der sich auch der Ich-Erzähler immer schmerzhafter konfrontiert sieht. Und in dem Maße, in dem die innere Unruhe des Protagonisten wächst, wächst das Verständnis für ihn. Und die Neugier, ob er einen Weg aus seinem unlösbaren Dilemma findet.
„Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ ist ein Buch, welches mich als Leserin an meine Grenzen gebracht hat. Dieses Buch „funktioniert“ nur, wenn „der Leser“ sich völlig frei davon macht, das Lese-Tempo selbst zu bestimmen zu wollen. Es ist das Buch, das die Geschwindigkeit des Lesens lenkt.
Mehr als einmal war ich davor abzubrechen … und ich bin froh, es nicht getan zu haben. Hier ist tatsächlich der Weg das Ziel.
Pirsigs 1974 erschienener Roman wurde in den USA als ein Kult-Buch gefeiert. Unvorstellbar, dass ein so unbequem zu lesendes Buch solche Erfolge haben konnte. Aber nachvollziehbar, dass es zu den Büchern gehört, die immer wieder als etwas sehr besonderes erwähnt werden.