Rezension

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Dr_Mvor 8 Jahren
Die heute lebende Generation kann sich die Zeit vor ihrer Geburt kaum vorstellen. Wie soll es dann um Ereignisse bestellt sein, die lange davor lagen? Oder um ein Verständnis für die dunklen Jahre deutscher Geschichte, die nun fast schon ein Jahrhundert zurückliegen? In diesem Buch erzählt Robert Scheer die Geschichte seiner Großmutter, die das Grauen der Konzentrationslager überlebte. Er reiste dazu nach Israel und befragte sie kurz vor ihrem Tod.

Gewöhnlich bleibt nicht selbst erlebte Geschichte recht abstrakt, weil man keinen Zugang zu dieser Zeit findet. Weil man nicht weiß, wie sich das Leben damals abspielte. Weil die Vorstellungskraft nicht ausreicht, um sich Dinge und Abläufe klarzumachen, die man glücklicherweise selbst nicht kennenlernen musste. Geschichte wiederholt sich nicht, sie reimt sich nur, meinte einmal Mark Twain. Und gerade deshalb lohnt es sich immer, persönlichen Schicksale zu verfolgen. Denn nur so wird Geschichte wirklich verständlich. Und vielleicht begreift mancher dann auch, was Twain mit seiner ironischen Bemerkung wirklich meinte. Gewaltherrschaften mögen verschieden aussehen und sich nicht genau wiederholen. Aber sie eint dasselbe Prinzip und dasselbe menschliche Verhalten, das seit Jahrtausenden eine Konstante der Geschichte ist.

Dem Bericht ist ein Satz vorangestellt: "Wir werden niemals in der Lage sein, den anderen zu sagen, wie es dort wirklich war." Wenn man diesen Bericht liest, dann versteht man diesen Satz vielleicht. Es ist nämlich nicht nur das erlebte Grauen, das die realistische Schilderung verhindert, sondern auch die bittere Erkenntnis, wie schnell alle für unabänderlich gehaltenen Regeln der Zivilisation verschwinden, wenn es ums nackte Überleben geht. Der Schock über beides machte es vielen Überlebenden lange unmöglich darüber zu sprechen. Das mag einer der Gründe sein, warum erst die Enkelgeneration es fertig bringt, ihren Großeltern die Blockade zu nehmen. Robert Scheer hat lange um den Bericht seiner Großmutter gekämpft.

In den ersten zwei Dritteln berichtet Pici ("die Kleine") ihrem Enkel von ihrer Familie und ihrer Kindheit in Rumänien. Dort wohnte die Familie ungarischer Juden und lebte vom Holzhandel des Vaters. Das Leben verlief in für die damalige Zeit recht normalen Bahnen. Dann kamen die Judengesetze und mit ihnen die Ausgrenzungen. Wie in jeder Zeit und in jeder Gesellschaftsform richteten sich die meisten Menschen nach den Vorgaben der Obrigkeit oder der von ihr erzeugten gesellschaftlichen Stimmung. Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass dies heute anders wäre. Ob man es nun Mainstream, Zeitgeist oder Trend nennt - der Mensch neigt nicht unbedingt dazu, aus der Reihe zu tanzen, weil es genug Gründe gibt, dies nicht zu tun.

Der Holzhandel von Picis Vater brach nach den Ausgrenzungen zusammen, das Geld wurde knapp. Dann kamen die Ungarn ins Land. Die Familie verlor ihr Haus und musste in ein Ghetto ziehen. Als dann später die Deutschen die Ungarn ablösten, begannen die Transporte in die Konzentrationslager. Picis Berichte darüber werden nun viel kürzer und gedrängter als ihre Schilderungen der vorangegangenen Zeit. Selbst nach mehr als siebzig Jahren ist es wohl immer noch schwer darüber zu sprechen, weil mit einer solchen Schilderung all die schrecklichen Erinnerungen wieder ins Bewusstsein kommen. Man will das nicht noch einmal erleben, nicht einmal in Gedanken. Picis Familie wurde in den verschiedenen Lagern fast vollständig ausgelöscht. Man findet die entsprechenden Angaben im Anhang.

Natürlich fragt man sich, warum man sich einen solchen Bericht aus längst vergangener Zeit antun muss. Mir ging es vor allem darum, ein persönliches Schicksal gewissermaßen aus erster Hand zu erfahren, das nicht literarisch oder moralisch überhöht wurde. Wenn man dieses Buch liest, dann erschreckt vor allem, mit welcher Geschwindigkeit sich ein ganz normales Leben in ein Grauen verwandeln kann und wie dies von einer Mehrheit toleriert wird. Auch wenn das alles weit weg erscheint: Man sollte nicht glauben, das dies nicht wieder passieren kann. Nicht genau so, aber so ähnlich. Die Geschichte hält dafür zahlreiche Beispiele bereit. Und dies nicht nur in der relativ jungen Vergangenheit.

Natürlich hat ein solcher Text auch kleine Schwächen. Es ist ein Bericht, der sich fast wortgetreu an den Erzählungen einer neunzigjährigen Frau orientiert, und keine durchdachte Literatur. Das macht aber andererseits gerade ihren Reiz aus. Die Schwerpunktsetzung liegt aus verständlichen Gründen leider nicht dort, wo man sie beim Titel vermuten würde. Das ändert aber selbstverständlich nichts am Wert dieses Berichts.

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