Rezension

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JoBerlinvor 7 Jahren

Mit „Pici“ ist Robert Scheer ein wunderbares Erinnerungsbuch an seine Großmutter Elisabeth Scheer (1924 – 2015), genannt Pici (die Kleine) gelungen.
Das Buch, in schöner Ausstattung (viele Fotos, flexibler Einband) in der Reihe „Nahaufnahmen“ des ambitionierten Marta Press Verlags erschienen, basiert auf Erzählungen Picis aus dem Jahr 2014.

Es beginnt zunächst mit substantieller Reflexion über Alter und Jugend. Wir lernen dann die Familie kennen - diese Beschreibungen eignen sich gut und gerne zu literarischer Verarbeitung in einem herrlichen Familienepos. Dass die weitverzweigte Familie für den Leser/Leserin nicht unübersichtlich wird, gelingt Robert Scheer spielend.

Geboren und aufgewachsen in Carei, einer Stadt, die je nach Weltenlage mal zu Rumänien, mal zu Ungarn gehörte, erfährt Pici bereits in der Schule Hänseleien und Anfeindungen, die in ihrer jüdischen Herkunft als wohl auch in ihrer Bildung und Intelligenz ihren Ursprung hatten. Doch Auszeichnungen für gute Leistungen konnte sie als Jüdin bereits nicht mehr bekommen. Für Pici ist diese Zurückweisung, diese Ablehnung bitter. Sie versteht diese Ausgrenzung nicht, ist sie nicht genauso ein Mensch, wie andere auch? „Schweig“, sagt der Vater, „ein Jude soll froh sein, wenn man ihn leben lässt“. Ahnte er schon das große Unglück, das die Familie bald erfassen sollte?

1944, ein Jahr vor Kriegsende, wird Pici in ein rumänisches Ghetto verschleppt, hier gab es „keine Tränen mehr, nur noch den täglichen Albtraum“. Und das Martyrium, die endgültige Auslöschung der Familie wurde dann in den Lagern Auschwitz, Walldorf, Ravensbrück vollzogen. Picis Erzählungen aus dieser Zeit sind eindringlich und berührend. „Uns wurde die Möglichkeit und das Recht genommen, als Menschen zu leben“.

Nun lässt sich anmerken, dass ähnliche Berichte, auch in literarischer Bearbeitung, natürlich bereits publiziert wurden. Es ist aber Robert Scheers große Leistung, Picis Schilderungen ohne großes Pathos umzusetzen, die einzelnen Kapitel so anzulegen, dass man nicht müde oder der Geschichte überdrüssig wird. So wird auch Picis weiteres Schicksal prägnant und ohne je ins Uferlose abzugleiten erzählt: Sie überlebt, geht nach Rumänien zurück, 1985 emigriert sie mit ihrer Familie nach Israel. Das Trauma bleibt. „Die Überlebenden zahlen mit einer nie nachlassenden Tortur dafür, dass sie ihre am meisten Geliebten überlebt haben. Dieses Gefühl wird bleiben, solange ich lebe ...“

Schicksale wie dieses haben auf deutsche Leser, so glaube ich, stets eine besondere Wirkung. Scham, Trauer, auf jeden Fall Betroffenheit – und das im wahrsten Wortsinn. Was mich zusätzlich hier besonders beschäftigt, ist die Dokumentation Picis Kampf um Entschädigung ihrer im Konzentrationslager geleisteten Zwangsarbeit für eine deutsche Firma. Die Fotos und Briefe dazu lässt Robert Scheer unkommentiert. Was sollte, was könnte man auch dazu sagen? Scham. Bodenlos.

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