Cover des Buches Die Offenbarung (ISBN: 9783746624815)
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Rezension zu Die Offenbarung von Robert Schneider

Rezension zu "Die Offenbarung" von Robert Schneider

von WinfriedStanzick vor 11 Jahren

Rezension

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WinfriedStanzickvor 11 Jahren
Der neue Roman von Robert Schneider "Die Offenbarung" hat das Zeug dazu, an den großen Erfolg seines sensationellen und weltberühmt gewordenen Debüts "Schlafes Bruder" anzuknüpfen. Wieder geht es um Musik, wieder steht ein Mensch im Vordergrund der Handlung, dessen ganze Existenz aus nichts anderem als Musik besteht, wieder besticht die Erzählung durch den für Schneider typisch gewordenen, fast magischen Stil und Wortwahl und wieder ist es eine Romanvorlage, die geradezu nach einer entsprechenden Verfilmung ruft. Hauptperson der Handlung ist der Organist Jakob Kemper aus Naumburg. Jahrzehnte hat er an der dortigen protestantischen St. Wenzelskirche die Orgel gespielt, ein durch katastrophale Vernachlässigungen während der DDR-Zeit ziemlich heruntergekommenes Instrument, das Johann Sebastian Bach persönlich kurz vor seinem Tod eingerichtet hatte und auf das Jakob Kemper sehr stolz ist. Kemper lebt seit Jahrzehnten allein in einem baufälligen Haus, das vor dem Zweiten Weltkrieg einem Juden gehörte, und so befürchtet er auch nach 1989, dass er dieses Haus bald wird räumen müssen, wenn sich Nachkommen des früheren Besitzers melden. Sein ziemlich grobschlächtiger Vater, ehemaliger Bürstenmacher, steckt immer noch voller nationalsozialistischem Gedankengut und konnte dies als Mitglied der nationaldemokratischen Partei innerhalb der SED auch ganz gut über die DDR-Zeit konservieren. Er verachtet seinen musisch begabten Sohn und fügt diesem den größten Schmerz zu, als er dessen große Liebe Eva in zweiter Ehe heiratet. Aus dieser Ehe entsteht der Sohn Leo, ein Stiefbruder Jakobs, zu dem er eine gute Beziehung hat. Jakob unterrichtet ihn im Klavierspiel und in Musikkunde und empfindet für Leo wie ein Vater. Neben den privaten Unterrichtsstunden bestreitet Jakob seinen Lebensunterhalt mit einer halben Stelle an der örtlichen Musikschule. Am Heiligen Abend 1992, es ist Jakobs Geburtstag, findet Leo, als er mit Jakob auf der Orgelempore sich unterhält, im morschen Gehäuse der Orgel einen alten, staubigen Umschlag. Als Jakob Kemper diesen dicken Umschlag öffnet, trifft ihn fast der Schlag. Der Umschlag enthält, neben einigen persönlichen Utensilien von J.S.Bachs spätem Schwiegersohn Altnickol, ein Autograph mit einem bisher unbekannten Werk Bachs mit dem Titel "Die Offenbarung". Jakob Kemper fiebert vor Aufregung, erst recht, als er das Autograph gelesen und mittels seiner hohen musikalischen Begabung auch gehört" hat. Er sagt sofort alle Weihnachtsgottesdienste ab und meldet sich krank. Er hat ein Stück entdeckt, das in einer konzertanten Aufführung mindestens sieben Stunden dauern würde, ein Stück mit bislang auch für Bach unmöglich gehaltenen musikalischen Stilelementen. Eine Revolution für die Bachforschung, als deren Teil sich Jakob Kemper schon lange begreift, von ihr und ihren Hauptvertretern aber nicht ernst genommen wird. Jakob ist verliebt in Lucia, die aus dem Westen kam nach der Wende und in Naumburg ein kleines Reisebüro eröffnet hat, dessen Geschäfte aber mittlerweile 1992 nach der ersten Reiseeuphorie der Ostdeutschen eher schlecht gehen. Sie ist auch die einzige, der er neben Leo, der absolut still schweigt, von dem sensationellen Fund erzählt. Sie rät ihm, das Autograph entsprechenden Stellen zu übergeben, doch Kemper zögert. Zumal er bei seinem Studium des alten Musikstückes völlig unerklärliche Erfahrungen macht. Die Partitur dokumentiert nämlich nicht nur Musik, sondern sie vermag Erinnerungen an Vergangenes, Verdrängtes und Zukünftiges zu beschwören. Diese Entdeckung wirft Jakob Kemper völlig aus der Bahn. Johann Sebastian Bach, von dem man immer geglaubt hat, die eher zusammengestückelte h-moll-Messe sei sein letztes Werk gewesen, scheint am Ende seines Lebens eine Art kosmisches Gesetz gefunden und in Musik umgesetzt zu haben, das die Seele des Menschen gesunden lässt - oder sie in tiefste Verzweiflung stürzt. Kemper wechselt zwischen ausgelassener Euphorie - er wähnt sich schon als anerkanntes und mit Preisen ausgezeichnetes Mitglied der Bach-Gesellschaft - und heftigen Alpträumen. Noch während er das Manuskript studiert, treffen vier hochrangige Experten in Naumburg ein, um die Orgel zu begutachten, während sie ein Orgelbauer auseinander nimmt. Einer dieser hochrangigen Gelehrten hatte Kemper einige Zeit zuvor brüsk abblitzen lassen, als dieser ihm einen Aufsatz über die Beziehungen der Familie Bach zu Naumburg zusandte. Robert Schneider lässt uns Zeuge werden von köstlich zu lesenden Auseinandersetzungen dieser Experten über die allerletzte Schaffensphase J.S.Bachs. Jakob Kemper mischt sich ein und erläutert seine These von einem bislang unentdeckten Werk, dessen Erstellung Bach in seinen letzten Lebenswochen einfach die Zeit für eine eigenständige h-moll-Messe genommen habe. Einzig ein Japaner unter den Wissenschaftlern horcht auf und will auch bei einem späteren Treffen mit Kemper mehr von dessen Theorie wissen, die ja längst keine mehr ist. Durch ein Malheur gerät der Umschlag mit der Partitur in das Gepäck von Dr. Zinser aus Leipzig, einem der Exerten. Er und sein Chef lesen die Partitur, aber weil nicht sein kann, was nicht sein darf, halten sie das revolutionäre Werk für eine Fälschung Kempers, der sich damit wichtig machen wolle und senden es an diesen zurück. Jakob öffnet den Umschlag noch einmal in der Kirche, durchlebt zum wiederholten Mal die Erfahrung, dass diese Musik die Beziehung zu seinem unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen Bruder Karl wiederherstellt und versöhnt. Jakob Kemper sieht sich plötzlich in aller Härte mit dem eigenen Leben konfrontiert. Erstmals stellt er sich seiner Schuld, begreift all seine Verfehlungen und wird ein anderer Mensch, indem er sich mit dem eigenen Leben versöhnt und mit dem übermächtigen Vater Frieden schließt. Er versteckt die Mappe mit den Noten wieder dort, wo er sie gefunden hatte. Soll sie in späteren Jahren jemand finden, der sie finden muss. Am Ende des Romans erfährt der begeisterte Leser, wie es kam, dass der alte Bach die Noten seines Werkes in Naumburg vergaß. Robert Schneiders wunderbarer Roman ist ein Hohelied auf die Kraft der Musik und ein engagiertes Plädoyer für die konsequente Suche nach den eigenen Werten im Leben. Dass er der amtskirchlichen Arbeit nicht viel zutraut, die Menschen dabei zu unterstützen, unterstreicht er eindrucksvoll in der fast komischen Darstellung und Schilderung des Naumburger Pfarrers, dessen theologische Auslassungen mich manches Mal zum Lachen brachten. In ihm ist Schneider eine perfekte Karikatur gegenwärtiger verwalteter Religion gelungen, die die Menschen nicht zu sich selbst befreien kann und die das letzten Endes auch weiß und deshalb so viel von der Kirchenmusik hält, die das offenbar kann und als einzige noch die Menschen in die ansonsten ziemlich leeren Kirchen bringt.
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