Yoko Tsuno ist die Heldin der gleichnamigen Comicserie, die der Belgier Roger Leloup seit nunmehr 57 Jahren selbst schreibt und zeichnet. Muss dieser Mensch nicht schon ziemlich alt sein? Ja, Leloup ist über 90 und liefert immer noch Comickunst auf allerhöchstem Niveau.
Band 31 ist 2024 auf Französisch und 2025 auf Deutsch erschienen. Yoko, die weltreisende – bisweilen auch weltraumreisende und zeitreisende – japanische Ingenieurin weilt in diesem neuesten Mystery-Abenteuer zunächst ganz beschaulich bei ihrer schottischen Freundin Emilia im Baumhaus am Loch Castle.
Die beiden sind nicht allein, denn Leloup-typisch hat Yoko inzwischen eine ganze Großfamilie aus Nebenfiguren der vorherigen 30 Bände um sich versammelt. Für Fans der Serie ist es wunderbar nostalgisch, all diese Begleiter*innen, Kinder, Aliens, Roboter versammelt zu sehen – und wer noch fehlt, kommt im Laufe des Hefts dazu. Nebenfiguren sterben in der Reihe nicht oder gehen am Ende einer Geschichte ihrer Wege, sie werden Yokos Freund*innen, Berater*innen, Pflegekinder.
Jedenfalls stoßen Yoko und Emilia eines Abends bei der Abtei des Castles auf unheimliche Mönche, die dort herumschnüffeln. Nach einem kleinen Unfall stellt sich heraus, dass sie Forschungen über einen bedrohlichen Adler aus der Vergangenheit anstellen. So richtig klar ist mir nicht geworden, worin die Bedrohung besteht, aber Yoko begibt sich pflichtbewusst, wie sie nun mal ist, auf eine Zeitreise ins 13. Jahrhundert, wo sie den mechanischen Adler sucht, den die Vineaner – die blauhäutigen, meist freundlichen Außerirdischen der Serie – dort zurückgelassen haben.
Letztlich stellt sich aber heraus, dass der Adler nur ein Lockvogel (pun intended) war, um Yoko in die Vergangenheit zu holen und einem Wesen vorzustellen, das inmitten eines Labyrinths ... lebt? untot am Leben gehalten wird? Dieses Wesen hat jedoch seinen eigenen Kopf, es geht ein bisschen drunter und drüber, schließlich kehrt Yoko aber mit einer errungenen Belohnung ins 21. Jahrhundert zurück. Die ganze abenteuerliche Reise ist wieder wahnsinnig schön illustriert, mit all den Fahrzeugen, Hintergrundszenerien, wundersamen Schauplätzen und phantastischen Wesen.
Ich hoffe, dies waren nicht zu viele Spoiler, aber wenn man einen spannenden Plot mit überraschender, logischer Auflösung erwartet, ist man in diesem Comic – und generell den höheren Nummern der Serie – vermutlich ohnehin falsch. Ich habe versucht zusammenzutragen, was ich beim ersten Lesen verstanden habe – insgesamt war das aber doch ein bisschen wirr. Mir kamen sowohl das eigentliche Problem, Yokos Lösungsansatz und die Auflösung zu kurz. Und das, obwohl Yokos Stärke neben ihrer Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit, doch eigentlich ihre Rationalität ist. Warum war jetzt diese Geschichte von dem Adler so ein großes Problem, dass man dafür so eine Reise unternehmen musste?
Aber das ist eben auch der Charme dieser Comics: Yokos pragmatische Art, mit der sie mal eben entscheidet, okay, dann reisen wir halt mal durch die Zeit und sehen nach! In Leloups Comics trifft Wissenschaft auf Wunder; sauber, mit klaren Linien konstruierte Technik auf Fantasiewesen. Und es ist alles so liebevoll erzählt: In einem Moment bringt Yoko die Kinder ins Bett, füttert den Fuchs oder kauft dem Bauern ein altes Pferd ab, um es zu retten. Im nächsten Moment aktiviert sie die futuristische Sprechanlage, um Luzifers künstliche Alien-Dienerin zu kontaktieren.
Neben all den Abenteuern geht es um große Dinge: Religion, teuflische Mächte, Aliens, die das Schicksal der Erde lenken. Die ganze Lore des Yokoverse ist in den 31 Bänden derart angewachsen, dass man leicht den Überblick verliert – was dessen Faszination aber nur noch steigert. Es werden so viele Geheimnisse angeteasert und das Heft endet mit einem untypisch offenen Ende und einer ungewöhnlich nachdenklichen Yoko.
Ich wünsche Roger Leloup jedenfalls noch ein langes Leben, damit er all die Ideen, die ganz offensichtlich noch in seinem Kopf herumspuken, noch zu Papier bringen kann. Fans sollten schnell zugreifen, denn Carlsen produziert die neuen Einzelhefte immer nur in geringer Auflage, bis sie dann später – immer drei Stück – in einem Hardcoverband gesammelt werden. Nr. 31 hat demzufolge einen neuen Zyklus begonnen, und ich freue mich in den nächsten Jahren auf Nr. 32 und 33, die sicher einiges aufklären werden.
Für Neueinsteiger ist Band 31 weniger geeignet – es sei denn, man möchte sich überrumpeln lassen, ins kalte Wasser springen, direkt an die Grenzen gehen, um danach, je nach Interesse, dem Gesehenen in vorherigen Ausgaben nachzuspüren und auf den Grund zu gehen.
Ach ja, fast vergessen, herzlich willkommen in der Großfamilie, Sebastian!