Rezension zu "L'homme rouge ou La vie du cardinal de Richelieu: 1585-1642" von Roland Mousnier
Andreas_OberenderKardinal Richelieu (1585-1642) zählt zu den herausragenden Figuren der französischen Geschichte. Doch die Zahl der seriösen, wissenschaftlich fundierten Biographien über den langjährigen Prinzipalminister Ludwigs XIII. ist erstaunlich gering, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und im angelsächsischen Raum. Auf den ersten Blick wirkt die Richelieu-Literatur reichhaltig. Die Vielzahl der Werke älteren und neueren Datums ist schwer zu überblicken. Bei näherem Hinschauen zeigt sich allerdings, dass nur die wenigsten Werke über den Kardinal wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und für eine ernsthafte Beschäftigung mit Richelieu in Frage kommen. Gerade als deutscher Leser findet man nur mit Mühe eine Biographie, die sich auf der Höhe des heutigen Forschungsstandes bewegt und zugleich gut lesbar ist. Manche ältere Werke, die einst ein großes Publikum erreichten, wurden durch die Forschungen der letzten Jahrzehnte überholt. Die dreibändige Monumentalbiographie von Carl Burckhardt, erschienen zwischen 1935 und 1967, ist hoffnungslos veraltet. Ihr monströser Umfang – der Text summiert sich auf mehr als 1.400 Seiten – schreckt zudem jeden potentiellen Leser ab. In den 1970er Jahren wurden zwei populärwissenschaftliche Biographien aus dem Französischen und Englischen ins Deutsche übersetzt, die Bücher von Philippe Erlanger (Originalausgabe in drei Bänden 1967 bis 1970) und Daniel Patrick O’Connell (Originalausgabe 1968). Auch diese beiden Werke sind längst veraltet. Die Biographie von Michel Carmona (1983) fand in Frankreich weite Verbreitung, ist inzwischen aber auch in die Jahre gekommen und für eine vertiefte Beschäftigung mit Richelieu nicht mehr geeignet. Im universitären Seminarbetrieb leisten die kompakten Studien der beiden britischen Historiker Robert Knecht (1991) und David Sturdy (2004) hervorragende Dienste. Es handelt sich um analytisch angelegte Einführungsdarstellungen, die eine umfassende Biographie nicht ersetzen können und wollen. Missglückt und gänzlich unbrauchbar sind die Richelieu-Biographien des britischen Literaturwissenschaftlers Anthony Levi (2000) und des deutschen Sachbuchautors Uwe Schultz (2009). Die Werke, die für eine tiefgründige Beschäftigung mit Richelieu geeignet sind, lassen sich an einer Hand abzählen: Die Biographien von Roland Mousnier (1992), Françoise Hildesheimer (2004) und Klaus Malettke (2018), dazu die wichtige Studie "The Rise of Richelieu" (1991) aus der Feder des britischen Historikers Joseph Bergin. Diese vier Bücher werden hier vorgestellt und vergleichend rezensiert.
In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gehörte Roland Mousnier (1907-1993) zu den international bekanntesten französischen Historikern. Seine Forschungen zur Geschichte Frankreichs in der Frühen Neuzeit (1500 bis 1789) waren bahnbrechend und wegweisend, und einige seiner Bücher etablierten sich als vielgelesene Standardwerke. Inzwischen hat Mousniers Name einiges von seinem einstigen Glanz verloren. Ein Abstand von mehreren Generationen trennt heutige Historiker und historisch interessierte Laien von Mousnier, der seine wissenschaftliche Ausbildung und Prägung in der Zwischenkriegszeit erhielt. Die Richelieu-Biographie war Mousniers letztes Werk und zugleich seine einzige Biographie. Das Buch entstand zur selben Zeit wie Bergins "The Rise of Richelieu", ist aber im Vergleich mit dieser Studie schlecht gealtert, wenn man das so ausdrücken darf. Es ist schwer vorstellbar, dass Mousniers Richelieu-Biographie heute noch eine nennenswerte Zahl neuer Leser findet. Nimmt man das Buch zur Hand, so sollte man sich das hohe Alter des Autors zum Zeitpunkt der Entstehung vergegenwärtigen. Mousnier hatte die 80 überschritten, als er an der Richelieu-Biographie arbeitete. Er befand sich nicht mehr auf der Höhe seiner intellektuellen Leistungskraft. Wie so mancher hochbetagte Gelehrte erlag Mousnier der Versuchung, sein gesamtes Wissen zu einem bestimmten Thema vor dem Leser auszubreiten (bei Klaus Malettke ist es ähnlich). Die Biographie gleicht einem üppig wuchernden Obstbaum, der eines kräftigen Formschnittes bedarf. Der Verlag Laffont war offenkundig nicht gewillt, einen solchen Formschnitt vorzunehmen. Der Text umfasst rund 780 Seiten. Informationsdichte und Faktenfülle verlangen dem Leser ein Höchstmaß an Konzentration ab. Das wahrhaft barocke Figurengewimmel ist schwer erträglich. Vier Register mit einem Umfang von 60 Seiten (Personen; Orte und Ereignisse; Sachbegriffe; literarische und künstlerische Werke des 17. Jahrhunderts) und eine extrem kleinteilige Gliederung des Textes sollen dem Leser die Orientierung erleichtern. Das Buch besteht aus vier Teilen, die in 31 Kapitel gegliedert sind, welche wiederum in Dutzende von Unterkapiteln gegliedert sind, deren Umfang zwischen einer halben Seite und mehr als 20 Seiten schwankt. Das Inhaltsverzeichnis umfasst sage und schreibe sechseinhalb Seiten. Zur Ausstattung des Buches gehören eine Stammtafel der Familie Du Plessis de Richelieu, eine detaillierte Chronologie und fünf Landkarten, von denen allerdings keine Frankreich zur Zeit des Kardinals zeigt. Auf Abbildungen hat der Verlag verzichtet.
In der Einleitung macht Mousnier keine Angaben zum Schreibanlass, und er formuliert keine Fragen. Er setzt sich nicht kritisch mit der älteren und neueren Richelieu-Forschung auseinander und lässt offen, ob er in seiner Biographie möglicherweise zu anderen Einsichten und Ergebnissen kommt als die Wissenschaftler, die sich vor ihm mit Richelieu beschäftigt haben. Wie ein aufmerksamer Blick in die Fußnoten zeigt, stützt sich Mousnier gelegentlich auf die Arbeiten von älteren Historikern wie Gabriel Hanotaux und Maximin Deloche. Er lässt jedoch im Unklaren, wie der Wert dieser vor 1950 entstandenen Werke zu veranschlagen ist. Mousnier formuliert die Absicht, Richelieu in einer dreifachen Rolle zu zeigen: Als Christ, als Edelmann (gentilhomme), als Gefolgsmann und Getreuen (fidèle) des Königs. Richelieus Lebensweg und das historische Geschehen in Frankreich und Europa werden eng miteinander verschränkt. Zum Verdruss des Lesers referiert Mousnier über weite Strecken hinweg gut bekanntes Handbuchwissen. Erzählende und beschreibende Passagen dominieren; der analytische Ertrag vieler Kapitel ist dürftig. Die Ausführungen über den Dreißigjährigen Krieg sind viel zu ausführlich geraten. Gleiches gilt auch für viele Passagen über die Vorgänge in Frankreich, besonders Richelieus politische Tätigkeit. Durchweg lässt Mousnier seinem Mitteilungsdrang ungehemmt freien Lauf. Der Leser hat große Mühe, im Dickicht des Informationsdschungels den Durchblick zu behalten. Ein anschauliches Beispiel für Mousniers ungezügelte Detailversessenheit ist das 23seitige Kapitel über Richelieus Hofstaat gegen Ende der 1630er Jahre (Struktur, Personal, Kosten usw.). Über den Politiker Richelieu sagt Mousnier nichts Neues oder Originelles. Die Zusammenarbeit von König und Kardinal haben bereits Pierre Chevallier (1979) und Lloyd Moote (1989) in ihren Biographien Ludwigs XIII. erschöpfend behandelt. Von Interesse sind am ehesten jene Kapitel, die Richelieus Bautätigkeit, Mäzenatentum und "Medienpolitik" beleuchten. Das sind Aspekte, die in vielen Büchern über den Kardinal zu kurz kommen. Mousnier schildert die Gründung der Académie française unter Richelieus Schirmherrschaft 1634/35, und er erörtert, wie der Kardinal Gelehrte und Schriftsteller einspannte, um seine umstrittene Politik gegenüber Kritikern inner- und außerhalb Frankreichs zu verteidigen. Da Abbildungen fehlen, hält sich der Wert der Abschnitte über den Bauherrn und Kunstsammler Richelieu in Grenzen. Die Zusammenfassung ist enttäuschend. Eine Bilanz, eine kritische Würdigung des Menschen und Staatsmannes Richelieu, Reflexionen über Richelieus Stellung in der französischen Geschichte bleibt Mousnier dem Leser schuldig.
FAZIT
Lesenswert sind nur die Bücher von Joseph Bergin und Françoise Hildesheimer. Die Biographien von Roland Mousnier und Klaus Malettke, zwei Alterswerke mit zahlreichen Schwächen und Mängeln, verdienen keine Leseempfehlung.