Cover des Buches Über den Winter (ISBN: 9783446249059)
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Rezension zu Über den Winter von Rolf Lappert

Eine Lanze brechen

von Buecherschmaus vor 8 Jahren

Rezension

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Buecherschmausvor 8 Jahren
Liest man die Besprechungen der großen deutschen Zeitungen zu Rolf Lapperts Roman "Über den Winter", der es 2015 immerhin auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, dann schien die Jury damit eine denkwürdige Fehlentscheidung getroffen zu haben.
Sentimentalität, Selbstfindungskitsch, Langeweile, Flachheit, gar ein "Buch von Männern für Männer" mit "ausgelutschten Darstellungen von Virilität" sind einige der Vorwürfe, die dem Buch in großem Stil gemacht werden.
Etwas freundlicher sieht es in den schweizerischen Medien aus. Nun, der Autor ist Schweizer - oder haben die Rezensenten das Buch, ähnlich wie ich, ganz anders gelesen?

Nun, worum geht es? Der 50jährige Lennart Salm ist der "Held" der Geschichte. Und hier greift vielleicht schon einer der Einwände, die man dem Buch gegenüber haben könnte, zum ersten Mal: seine Überdeutlichkeit. Salm, natürlich verbindet man damit die Lachse, jene Fische, die gegen alle Hindernisse zum Laichen an ihren Geburtsort zurückkehren. Ein Akt des Schaffens neuen Lebens, aber für viele der Fische auch den Tod bedeutend. Salm, nun nicht einfach nur ein Name, denn auch Lennart Salm kehrt nach Jahren des unsteten Wanderns durch die Welt als Konzeptkünstler nach Hause zurück.
Zunächst lernen wir ihn aber an einem nicht näher benannten Strand kennen. Er steckt in einer Schaffenskrise, hat sich ins Feriendomizil seines Mäzens zurückgezogen und arbeitet an einer neuen Idee. Strandgut, Fundstücke, die das Meer ans Land wirft, seit den großen Flüchtlingsströmen übers Mittelmeer auf makabere Weise "ergiebig" geworden, sollen in einer großen Installation ausgestellt werden. Als Mahnung, zur Erinnerung an die Opfer. Aber eben auch als Kunstprojekt, das Lennart eher lustlos und wenig überzeugt verfolgt.
Da stößt er bei einem seiner Beutegänge am Strand auf einen toten, ertrunkenen Säugling. Eine Erschütterung die noch durch die Nachricht vom Tod seiner älteren Schwester Helen verstärkt wird.

Lennart verlässt die heruntergekommene Feriensiedlung, die sich auch durch Stacheldraht und Wachmänner nicht vor den Angriffen nicht näher identifizierter Banden und dem eigenen Niedergang bewahren kann. Ein paar wackere, durchaus aber auch irgendwie lächerliche Villenbesitzer halten hier Stellung. Auch hier wieder ein vielleicht allzu deutliches Sinnbild für das Europa, das mehr oder weniger hilflos gegen inneren Zerfall und Ansturm von außen zu kämpfen hat.

Zuhause in Hamburg Wilhelmsburg angekommen wird Lennart mit seiner äußerst schwierigen Familiensituation konfrontiert, der er sich jahrelang durch Arbeit und Auslandsaufenthalte entzogen hat. Seine überschwängliche, leicht chaotische Schwester Bille, der farblose Bruder Paul, die kalte Mutter und der Lennart sehr zugetane Vater, der aber mittlerweile sehr gebrechlich ist. Durch eine Affäre der Mutter, von der die Geschwister nichts wissen, wurde die Familie vor langer Zeit auseinander gerissen: Bille und Lennart blieben beim Vater, Helen und Paul bei der Mutter, die später nach Florida zog. Die Bindungen innerhalb der Familie sind eher lose, der Kontakt zwischen Mutter und Lennart, der ihr nie verzeihen konnte, praktisch null.
Nun trifft man auf der Beerdigung aufeinander und die tiefen trennenden Gräben. Zögerlich nähert sich Lennart seiner Schwester, will vor allem den Kontakt zum alten Vater, der mit seiner polnischen Pflegerin Bascha lebt, intensivieren. Es kommt zu Begegnungen, die Lennart sich langsam öffnen lassen, seine Abkehr von der Kunst festigen, ebenso seinen Wunsch, zur Familie zurückzukehren.

Ja, das könnte man als eine Art Selbstfindungskitsch lesen, wäre da nicht die ruhige, nahezu nüchterne und doch in manchen Beschreibungen geradezu poetische Art zu erzählen.
Es ist Winter in Hamburg. Und Lennart Salm ist selbst ein wenig wie eingefroren. Rolf Lappert lässt ihm Zeit. Zeit um etwas aufzutauen, sein Leben neu zu positionieren.
Viel mehr als die Selbstfindung eines Mannes der sogenannten mittleren Jahre habe ich das Buch aber als eines über Entwurzelung gelesen, auch über Fremdheit - da ist Lennart bei den Bootsflüchtlingen vom Beginn -, eines über Bindungslosigkeit und eines über Verlust. Denn Lennart verliert nicht nur sein Fluggepäck, dessen Ortung duch allitalia so etwas wie einen running gag darstellt, sondern auch so manche Gewissheit und vor allem den Glauben an den Sinn seines künstlerischen Schaffens. Und da ist natürlich auch der Verlust der Schwester, der drohende Verlust des Vaters. Die Uhr tickt lauter und Lennart entdeckt zum ersten Mal so etwas wie Verantwortung.
Rolf Lappert erzählt wie gesagt mit einer großen Ruhe, die der Leser auszuhalten in der Lage sein muss. Ich habe sie sehr genossen. Ebenso wie die vielen stimmungsvollen settings, die teilweise ins leicht Surreale kippen.
Und auch Musik spielt eine große, schöne Rolle im Roman.
Da kann ich über die manchmal tatsächlich etwas große Überdeutlichkeit gerne hinwegsehen.
Und eine Lanze brechen für "Über den Winter": Auf der Shortlist stand das Buch völlig zu recht.
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