Roman Frister: Die Mütze oder der Preis des Lebens
Wenn über den Holocaust noch ein Buch gefehlt hat, ist es sicher „Die Mütze oder der Preis des Lebens.“ Was Fristers Roman von allen anderen unterscheidet, ist die Tatsache, dass es sich nicht mit der Beschreibung physischer Leiden begnügt, sondern gleichzeitig eine „brutalstmögliche“ Lebensbeichte darstellt, die nicht mit dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus endet, sondern bis in die Gegenwart reicht. Schonungslos und mit bemerkenswerter Offenheit erzählt er von seiner persönlichen Schuld im Laufe seines Lebens, beichtet er einer entsetzten Leserschaft alle seine Untaten. Seine Geschichten entlarven ihn als Verräter, Betrüger, Erpresser und – das ist der erschütternde Tiefpunkt seiner Beichte – als skrupellosen Mittäter: Ein homosexueller Jude mit einer Sonderstellung vergewaltigt regelmäßig nachts jüngere Mithäftlinge und schickt sie in den sicheren Tod, indem er ihnen ihre Mütze wegnimmt. Denn ein Häftling, der beim Morgenappell ohne Mütze erscheint, wird sofort erschossen. Auf diese hinterhältige Weise bleibt sein Tun unentdeckt, gibt es keine Ankläger. Als auch Frister Opfer dieses Schweins wird, stiehlt er einem Mithäftling die Mütze und schickt diesen in den sicheren Tod, um sein Leben zu retten. Frister kommentiert sein Verhalten so: "Was nützen Heldenmut und endlose Opferbereitschaft, wenn sie zu nichts führen, was hilft ein reines Gewissen, wenn man tot ist?" Das klingt abgebrüht und skrupellos; aber darf man einen Halbwüchsigen dafür verurteilen, dass sein Überlebenswille größer war als unser moralisches Empfinden, zumal dieser in frühester Jugend mitbekommen hat, wie Juden ihre Glaubensbrüder denunziert haben, um sich zu bereichern oder sonst einen Vorteil zu verschaffen? Frister bestätigt einmal mehr: „Erst kommt das Fressen und dann die Moral“ oder „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Totalitäre, menschenverachtende Systeme provozieren Denunziantentum und Unmenschlichkeit, sie fügen Menschen physische Leiden zu, bis hin zur Vernichtung, und – das ist ein ebenso großes Verbrechen – sie töten die Seele und damit jedes moralische Empfinden. Dass dies das weitere Leben beeinflusst, zeigt Frister ebenso eindrucksvoll.
Fazit: „Die Mütze oder der Preis des Lebens“ ist ein eindrucksvolles Buch, das man gelesen haben sollte, auch wenn es für unser Empfinden eine Zumutung ist. Man mag die Taten an sich verurteilen, den Menschen, der sie begangen hat, indes nicht.
Frister schafft sich mit seiner Offenheit keineswegs Freunde. Er gießt Öl ins Feuer und Wasser auf die Mühlen derer, denen die Überlebenden des Holocausts in Israel absolut nicht willkommen waren, weil in Israel viele der Ansicht sind, dass nur die schlechtesten Elemente überlebt haben, die Guten wurden alle ermordet. Sein Geständnis passt nicht zum Mythos vom braven Opferlamm, das sich einfach zur Schlachtbank führen ließ oder zum Mythos vom furchtlosen Helden, der es den Nazis gezeigt hat. Roman Frister ist in einer Zeit moralischer Verwerfungen unter die Räder eines unmenschlichen Systems geraten und hat diese Tortur überlebt; er hat dafür einen hohen Preis bezahlt. Auch wenn die Taten zu verurteilen sind, vor dem Menschen Roman Frister, seinem Mut und seiner Offenheit habe ich allergrößte Achtung.